Otik Counter

ein paar Gedanken zur bewusst provokativen Frage:
Vollbluteinsatz in der Warmblutzucht - warum eigentlich?

Ich würde das Pferd gern einmal ganz von hinten aufzäumen und alle neuzeitlichen Aspekte (und Klischees) hinten anstehen lassen – also mich bewusst über die allgemein gültigen Floskeln hinwegsetzen die in den letzten Jahren unisono wiederholt werden bis hin zu Lehndorffs Ausspruch „Blut ist der Saft der Wunder schafft!“ von anno dunnemal. – weil ich auch annodunnemal noch als Neuzeit in diesem Hinblick betrachten würde.
Fakt ist, dass wir bis heute nicht ganz viel weiter gekommen sind in der „Beweisführung“ wenn man mal davon absieht, daß die Fotos der Sportpferde im Jahr 2000 ganz sicher „harmonischere“ und „schönere“ (und damit für das Auge "gefälligere) Typen zeigen als das noch vor dem Krieg der Fall war. Aber ob die heute deshalb wirklich leistungsstärker und härter sind?
Ich weiss es nicht.
Und wenn man sich die Anforderungen gerade an Spring- und Jagdpferde von vor dem Krieg ansieht und wie sie das gemeistert haben – Hut ab!
Denke nicht, daß da heute viele mithalten könnten, vor allem nicht im Hinblick auf Lebensdauer unter der Belastung und OHNE die heute üblichen medizinischen Dauerbehandlungen. Und die gabs damals definitiv nicht.
Sicherlich tun sich ein Teil unserer heutigen Warmblüter leichter mit den Ansätzen zur Passage und Piaff als das noch bei den alten Schärgen der Nachkriegszeit der Fall war weil wir das Exterieur dahingehend züchterisch ver"bessert" (besser: ver"ändert" haben) - aber ob sie deswegen haltbarer und vor allem belastbarer sind?

Also.
Wo bringt uns das hin?
Gehen wir mal ein paar Jahrunderte zurück, oder auch gern ein Jahrtausend, und sehen uns die Verteilung des Gebrauchspferdes über die Kontinente an und was die Evolution daraus gemacht hat.
Da gabs Vollblutaraber in den Wüstenstaaten und derbe Ackerpferde und Schlachtrösser auf dem Kontinent. Alle irgendwann mal dem selben Urpferdchen entsprungen aber dann völlig unterschiedlich im Hinblick auf Nutzung und Anpassung an ihre jeweilige Umwelt entwickelt.
Und ich denke die Umwelt hat sich was dabei gedacht.
Und ich unterscheide hier bewusst nur in zwei Typen, nämlich "Kaltblut" u Vollblutaraber. Weil das englische Vollblut nunmal nur ein Derivat des Vollblutarabers ist und selber erst sehr viel später kam.
Dass die Natur aber gerade im Vollblutaraber wohl schon früh den „Idealtyp“ im Hinblick auf Anforderungen an sein natürliches Umfeld (und ich rede nicht von den heute üblichen Schau-Araber Exzessen) geschaffen hat, liegt klar auf der Hand – in einer kargen Wüste zu überleben, dazu gehören nunmal in allererster Linie Härte und Anspruchslosigkeit. Nicht umsonst sind diese Pferde bis heute in Reinzucht ihrem Typ erhalten und wenig verändert gegenüber noch vor hunderten von Jahren.

Ich denke wir sind uns einig, dass ein Wüstenpferd auf Steppen- oder Sandboden bei geringem Futterangebot und gleichzeitiger Nutzung als Beduinen/Wanderpferd und auch der Kriegsführung dienend sicherlich zurecht als hart und zäh bezeichnet werden kann – und diese Pferde sind nach der Überlieferung sehr alt geworden und das sicher nicht nur weil sie ihren Stämmen heilig waren.

Dann haben wir die derben Ackerpferde die gemäss ihres beständigen etwas untertouringen aber eben „pferdegerechten“ weil bewegungsintensiven Einsatzes in der Landwirtschaft auf dem Kontinent ebenfalls ein längeres Leben fristeten als das im Schnitt unsere heutigen Sportpferde tun, dem Anspruch eines höhertourig drehenden Motors für Kriegs- und später Sportzwecke aber nicht wirklich gerecht wurden.
Der Ruf nach Veredlung wurde laut.

Und seitdem befindet sich die sog. „Warmblutzucht“ im stetigen Wandel – ein dynamischer Prozess über Jahrhunderte mit Höhen und Tiefen der sich stetig und dynamisch weiterentwickelt – ob zum positiven oder negativen im Hinblick auf natürliche Beschaffung des Pferdes, das lassen wir mal dahingestellt.
Fakt ist, dass der Warmblüter aber eine Mischzucht ist, ein Hybrid, entstanden aus zwei Extremen – Vollblut und Kaltblut, wenn man so will. Wobei die Begriffe in ihrem Ausmass völlig wertfrei zu definieren sind.
Der Punkt auf den ich hinaus will:
Der Vollblutaraber ist eine Reinform die sich stetig bis heute gehalten hat. Das mag bei dem Kaltblüter oder schlicht „Ackerpferd“ ebenso sein – weil sich dort bei beiden Rassen auch die Ansprüche über die letzten hunderte von Jahren nicht geändert haben. Diese Pferde musste man im Hinblick auf ihre natürliche Beschaffenheit und Gebrauchsfähigkeit nicht mehr verändern – sie haben offensichtlich ihre idealtypische Rasseform gefunden.

Bei dem Warmblut ist das aber mitnichten so.
Was der Warmblüter in den letzten hundert Jahren (ein winziger Zeitraum eigentlich vor dem Hintergrund der Entwicklung seiner Vorfahren) an Experimenten im Hinblick auf Kreuzungen und Mischzuchten über sich hat ergehen lassen müssen das ist schon eine ziemlich revolutionäre Menge – und bis heute sind wir nicht mit dem Ergebnis „zufrieden“ und bemühen uns gemäß den Zuchtzielen der diversen Verbände nach dem "idealen" Sportpferd zu trachten. Wir befinden uns also nach wie vor in einem dynamischen Prozess.

Dennoch liegt der Focus der Entwicklung des Warmblüters auf weniger als 100 Jahren – vor dem Hintergrund der Evolution die ja nun in der Fertigstellung eines Idealproduktes eher mal Jahrtausende beansprucht kann und ist das kein endgültiger „Reife-“ und Entwicklungszustand. Die Reinzucht Warmblut gibt es also eigentlich noch gar nicht -? Nicht vor dem weiten Jahrhunderte beinhaltenden Anspruch den die Evolution und damit genetische Verankerung einer Rasse mit all ihren Vor – und Nachteilen fordert. Wobei: "Nachteile" soll sie bei stetig gleichbleibendem Umfeld eigentlich im Idealfall gar nicht haben weil es Ziel der Evolution ist sich letztendlich einem stetig gegebenen IST Umfeld anzupassen – und damit eben das Ideal zu schaffen.
aber: für den Warmblüter gibt es bis heute eben (noch) kein Idealbild weil wir, der Sportzüchter, seit hundert Jahren dieses Ideal eben stetig verbessern u verändern wollen.
Will meinen:
zehn Generationen Mischblut oder Vollblut ist gut und schön – aber mitnichten hinreichend um die Rasse so weit zu konsolidieren dass dauerhaft eine Reinzucht unter Warmblütern möglich wäre die dann auch dem Idealbild
a) weiterhin entsprächen oder
b) dieses sogar noch weiter zu entwickeln (Zuchtfortschritt) in der Lage ist.
Hundert Jahre sind eben nichts im Hinblick auf Jahrtausend die sowas normalerweise braucht.
Weshalb selbst zehn Generationen "St.Pr.St." sich vergleichsweise lächerlich ausnehmen vor dem Hintergrund des Bestandes einer Rasse über einen perspektivischen Zeitraum von tausend Jahren und mehr, die diese Bestand haben sollte.

Prominentes Beispiel ist sicherlich ein Donnerhall der immer wieder -häufig eben bei blutleerer Anpaarung- durch herbe derbe Typen auffällt. kein Wunder eigentlich, liegt doch sein Mutterstamm noch im alten Oldenburger, einem reinen Gebrauchspferd. Da kann auch der einmalig in 3. Generation auftretende Vollblüter Markus dauerhaft wenig gegen ausrichten - jedenfalls wenn man ihm nicht immer wieder weiter vorn Blut mal wieder frisch zuführt. Sicherlich gibt es hierzu reichlich Beispiele auch in anderen Zuchtgebieten, man denke nur an den alten Frühling oder Grande und wie sie alle heissen. Nur liefert Donnerhall eben aufgrund seiner hohen Nachkommendichte und der weiten Verzweigung, die der Stamm mittlerweile hat, hierfür ein anschauliches Beispiel. Dieses "alte" schwere Blut ist eben sehr dominant. Krasses Gegenbeispiel m.e. die Linie des Rubinstein, insbesondere über Rohdiamant, wo man doch sehr viel häufiger leichtere moderne Pferde auch aus blutleerer Anpaarung findet - m.e. sicherlich dem dichter geführten Edelblut des Angelo und Inschallah geschuldet.

Man kann darüber streiten ob es nun ausgerechnet das englische Vollblut sein muss welches der nachhaltigen Veredlung am besten dient, ich bin sicher der Vollblutaraber täte es genauso, aber die heutigen Idealvorstellungen an ein modernes Sportpferd sprengt letzterer nunmal noch mehr als das englische Vollblut es tut, also hat man sich mehrheitlich auf das englische Vollblut als das geringere von beiden Übeln geeinigt.

Ich bin aber ziemlich sicher, wenn wir unsere Stutenstämme in zwei Lager unterteilen würden, solche die künftig konsequent ohne Vollblutanteil weiter bedient werden, und solche die nach den modernen Ansprüchen immer wieder mit Edelblut angereichert werden, dann hätten wir in 50 – 100 Jahren zwei krasse unterschiedliche Lager von Warmblütern:
Die, bei denen mangels „Konsolidierung“ von Edelblut sicherlich eher mal wieder rückfällig werden in den schwereren sportungerechteren Typ, und die, die dem heute proklamierten Idealtyp eines Sportpferdes nahe kommen. Weil die Donnerhalls und Frühlings dieser Welt eben ohne weitere Blutzufuhr eher mal dazu neigen werden dem derben Typ rückzuverfallen. Es sind eben die stärker und dichter basierten Gene der Mutterstämme die hier dominieren. Weil die Basis unserer kontinentalen Stutenstämme eben Ackerpferde waren - und keine Vollblutaraber.

Und weil hundert Jahre Zuchtfortschritt eben bei weitem nicht ausreichen die genetische Grundlage soweit zu konsolidieren dass die entsprechenden Rasse"vorteile" (schlechtes Wort: Rasse"merkmale" wäre angemessener) des Blutpferdes auch nachhaltig in der Zukunft erhalten bleiben.

Ob wir also wollen oder nicht: wenn wir weiterhin ein „modernes“ Sportpferd züchten wollen werden wir wohl oder übel immer wieder zwischendurch 'ne Tüte Blut dazukippen müssen.
Zumindest was die nächsten paar hundert Jahre angeht. Noch ist der Warmblüter noch lange keine genetisch konsolidierte eigenständige Rasse. Schon allein um die Blutanteile aus den Generationen davor nicht verwässern zu lassen.
Weil die Evolution numal so ausgerichtete ist, dass sie im Zweifel dazu neigen wir sich zur einen oder anderen Seite des Erbmaterials auszurichten – und das ist bei den heutigen Warmblütern mit ihrer kurzen Geschichte von (einigen) hundert Jahren in der Masse eben nicht der Edel- sondern der Schwerblutanteil.

Lehndorff's Ausspruch: "Blut ist der Saft der Wunder schafft!" ist also heute so aktuell wie eh und jeh - wenn wir auch morgen noch auf "dem Auge gefälligen Pferden" durchs Dressurviereck schweben wollen...

Womit wir wieder bei meiner Ionia xx wären, von der ich mir erhoffe, daß sie auf Dauer zur Linienbegründerin eines modernen, leistungsfähigen und sportgerechten Stutenstammes wird - denn ein Lauries in Hannover allein, der kann sie eben nicht alle schaffen. 


 

Veredlung in der Warmblutzucht - über die Eignung vom Vollblutaraber im Vergleich zum englischen Vollblut
ein Update zum vorangegangenen Artikel "Vollbluteinsatz in der Warmblutzucht - warum eigentlich?" und eine Schlussfolgerung, die zu erkennen ich gut zwei Jahre und einige ausgewählte Pferde mit ox-Einfluss life zu sehen benötigt habe 

Einen Ramzes und seinen arabischen Einfluss aussen vor, um dessen züchterische Leistung sachlich zu würdigen muss man auch die notwendigen fünfzig Jahre zurückgehen und sich ansehen, vor welchem züchterischen Warmbluthintergrund Ramzes seinen Einfluss eingebracht hat und ganz vor allem anerkennen, in wieweit eben diese Sportpferde- und Warmblutzucht sich seither vom Original (Ramzes) wegentwickelt hat.
Jeder Veredler von Bedeutung hatte seine Zeit, in der er Grosses vollbracht hat.
Daraus lässt sich aber nicht im Umkehrschluss folgern, er könne auch in der heutigen Zeit noch ähnliches vollbringen - ganz einfach deshalb weil die zugrundeliegende Warmblutzucht seit hundert Jahren einem steten dynamischen Wandel unterliegt, den ein Veredler notgedrungen mitvollziehen muss, um das Optimale zu bewirken. Doch dazu dürfte der reine Araber inzwischen "zu weit weg" sein.
Reinzucht pur, die dort noch heute auf züchterischen Grundsätzen wie vor tausend Jahren basiert.

Fünfhundert Jahre zurück und man hat begonnen, mittels Selektion ein Rennpferd aus dem Vollblutaraber zu züchten - einen "Bastard", genau wie unsere späteren Warmblüter später als "Bastarde" aus eben diesen Rennpferden (engl. Vollblut) hervorgegangen sind. Der englische Vollblüter begann einst wie unser heutiger Warmblüter - als ein Hybrid.
Ist er es noch?

Der Ursprung des (englischen) Vollblüters ist der Araber in Reinzucht. Das heutige Warmblutpferd ist als ein weiteres Derivat ("2. Ableitung") aus dieser "Bastard"zucht hervorgegangen, derer der Araber in Reinzucht bereits eine Grundlage weiter hinten angesiedelt ist. Die Abweichungen vom (englischen) Vollblut zum Vollbutaraber sind enorm, die vom Warmblut zum Araber noch erheblich grösser.

Halbwegs wissenschaftlich lässt sich das vielleicht anhand von Tesio erklären, der den einmaligen Versuch zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschreibt, der inzwischen recht homogenen Vollblutrasse "Rennpferd" ("homogen" ist nicht ganz korrekt, es bleibt ein Bastard/Hybrid, der sich inzwischen genetisch aber schon ganz erheblich von der Gründungsrasse Vollblutaraber entfernt hatte ) durch erneute Auffrischung durch reines Araberblut quasi einen genetischen "Auftrieb" zu verschaffen. Das ganze endete in einem züchterischen Desaster weil die Pferde nicht wie gewünscht die mittlerweile im (englischen) Vollblüter konsolidierten "idealen" (Renn)eigenschaften verstärkten, sondern zu Rückzüchtungen hin zum Araber mutierten, die den Ansprüchen der Rennbahn in keiner Weise gerecht wurden. Tesio bringt das schlicht auf den Punkt mit seiner Aussage "100 Jahre wissenschaftlicher Selektion mit Hilfe des Zielpfostens hatten mehr erreicht als tausend Jahre praktischer Selektion in der Wüste".

Bei dem heutigen Warmblut sind die genetischen Herausforderungen ähnlich. Zwar wollen wir heute nicht mehr "rennen" sondern "reiten", aber die dynamische Wandlung unserer hybriden Sportpferderasse in den letzten 50-100 Jahren hat sich bereits gewaltig vom reinen (englischen) Vollblüter entfernt. Der Grund, warum es so schwer ist, heute überhaupt noch passende Vollblüter zu finden und dennoch die Menge der negativ-Merkmale erst über ein bis drei Generationen hinweg wieder ausmerzen zu müssen - die heute übliche und warmblutzüchterisch angestrebte "Konsolidierung" der "nur vorteilhaften" Erbeigenschaften eben. Der Grund, weshalb wir selbst den Vollblüter heute am liebsten erst in der dritten Generation und erst weiterfolgend dann auch gern "gehäufter" (konsolidierter Edelbluteinfluss)antreffen wollen.

Die genetische Distanz der heutigen Warmblüter zum "Ur"begründer der Rasse (Vollblutaraber) ist jedoch noch reichlich viel weiter vollzogen worden. Der englische Vollblüter ist bereits als eine hybride Zwischenrasse zu sehen und damit i.s. der Warmblutzucht letzterem näher als der Araber.
Die skelettartige Ausprägung der Berberrassen allgemein (i.S. von Tesio's Verständnis) und mit ihr die daraus sich ableitenden funktionalen Bewegungsmechansimen, ist nunmal eine gänzlich andere als die des englischen Vollblüters.
Die Wahrscheinlichkeit, heute in direkter Anpaarung an einen Vollbutaraber ein Ergebnis zu erzielen, bei dem die Summe der positiven Eigenschaften ( i.s.des heutigen Sportpferdes) die der negativen Eigenschaften überwiegt, dürfte noch erheblich geringer sein als dies in Anpaarung mit dem dazwischenliegenden Derivat, dem englischen Vollblüter, zu erzielen ist.
Selbstverständlich gibt es immer Ausnahmen, wie das bei jedem Versuch von "Rück"züchtungen der Fall ist (im genetischen Sinn, Stichwort: Mendel). Diese Ausnahmen sind wiederum erblichen Gesetzmässigkeiten unterworfen, die durchaus kalkulierbar sind, wie Mendel es bewiesen hat. Dennoch dürfte die höhere Kalkulierbarkeit "begehrenswerter" Eigenschaften i.s. der Sportpferdezucht (oder besser: das GERINGERE Auftreten WENIGER begehrlicher Eigenschaften) heutzutage eher gegeben sein, wenn man sich nicht mehr der Reinform des Arabers sondern ausschliesslich der bereits seit Jahrhunderten konsolidierten Mischform des englischen Vollblüters zur Veredelung bedient.

Nimmt man dann noch hinzu, dass wir nicht auf einzelne Erbmerkmale hin zu selektieren im Stande sind (Stichwort: Genomische Selektion; erst die wird uns einmal dahin bringen), sondern es immer mit einer Summe von Erbmerkmalen zu tun haben, über deren zufällige Zusammensetzung wir gar nicht in der Lage sind zu entscheiden, wird klar, wie wenig hilfreich in direkter Anpaarung eine 50% Zufuhr "Ur"pferd (Vollblutaraber) die Summe dieser beim Warmblüter inzwischen recht weit konsolidierten Sportpferdeeigenschaften "negativ" aufmischt. Diese Erbeigenschaften wieder "weg" zu konsolidieren wirft uns weiter zurück als heute beim reinen englischen Vollbluteinsatz um die bereits notwendigen ein oder zwei Generationen.

Nimmt man dann noch die notwendigen Eigenschaften der Spezialisierung unserer Springpferdezucht hinzu, potenziert sich die Problematik um ein Vielfaches. Kein Zufall, dass unsere grossen Warmblutverbände sich inzwischen schwerer tun, den geeigneten Veredler für Springpferde als für Dressurpferde zu finden. Auch hier liegt das grösste Problem im Rücken und der funktionalen Nutzungsmöglichkeiten begründet. Vermögen lass ich hierbei bewusst aussen vor. Die reine Springtechnik des Arabers ist nunmal gänzlich anders (ohne basculierenden Rücken) und damit den gewünschten Eigenschaften des Springspezialisten diametral entgegengestellt. Die Ursachen hierfür dürften die selben sein wie die, die im weiteren Bewegungsablauf den Raumgriff und Schub einschränken (der notwenige Abdruck von hinten über den Rücken optimal umgesetzt). Es liegt in dem den Berberrassen eigenen Konstrukt des Skelettes begründet, das nach oben ausgerichtete versammelnde Bewegungen trefflich unterstützt, jedoch nach vorn ausgerichtete raumgreifende Bewegungsabläufe einschränkt. Nicht ohne Grund ist ein "Sprung" (egal wie hoch oder weit) auch heute nichts anderes als ein erweiterter Galoppsprung. Und dass der reine Vollblüter bei der "Erweiterung" des Galoppsprungs dem Araber überlegen ist - nun, das musste nicht erst Tesio in treffende Worte fassen, es liegt ganz einfach im Zuchtziel der Rasse begründet. Der reine Araber ist anders als der englische Vollblüter auf effiziente, weil kraftsparende und ausdauernde Abläufe selektiert. Distanzpferde unter härtesten Ansprüchen in kargem Gelände. Etwas völlig anderes als kurzfristige Hochgeschwindigkeitsleistung unter optimalen Bedingungen.
Dennoch ist auch die Galoppsprungerweiterung des reinen Vollbüters i.s. der Springpferdespezialzucht erheblich makelbehaftet und es bedarf wieder erst Generationen, um auch dieses genetisch verankerte Defizit "auszumerzen". Der Galoppsprung des Vollblüters ist ausschliesslich in flacher Effizienz nach vorn und nicht aufwändig kräftezehrend nach oben ausgerichtet. Das wesentliche Merkmal jedoch, dem die spezialisierten Springferderassen heute seit Generationen unterzogen sind, ist die genetisch konsolidierte, starke und zugleich durchlässige (basculierende) Konstruktion des Rückens in Verbindung mit Abdruck und Schubkraft von hinten, um einen solchen aufwändig kräftezehrenden Sprung überhaupt erst zu ermöglichen.
Findet man einen Veredler, der in der Lage ist, die rassespezifische Einschränkung des Sprunges an sich nicht dominant weiter zu geben, ist man schon ein grosses Stück weiter. Von "Verbesserung" des Sprunges wollen wir gar nicht reden - so wenig, wie man sich vom Veredeler die Verbesserung der dressurmässig ausgerichteten, ebenso aufwändigen und kräftezehrenden, Grundgangarten erwarten darf. Der Vollblüter ist und bleibt nunmal eine Rasse, die ausschliesslich auf Schnelligkeit gezüchtet wird und wurde.

Bluteinsatz mit weniger dominanten Negativa zu selektieren ist heute das Ziel der gelungenen Veredelung in der ersten Generation, egal in welche Spezialsierungsform (Springen oder Dressur). Das optimale Sportpferd zu züchten wird meist erst ein paar Generationen weiter gelingen - durch gelungene Konsolidierung allein der positiven Eigenschaften. Die ihm eigene Dominanz in seiner "urpferdlichen" Ausprägung steht dem Araber dabei jedoch erheblich mehr im Wege als dem Bastard (engl.) Vollblut. Die Frage nach der Wahl des geringeren von zwei Übeln, wenn man es ganz nüchtern betrachtet. 

Reitpferdeeigenschaften sind den Berberrassen unbenommen, man sieht das in den Disziplinen der klassischen Dressur. "Setzen" kann man diese speziell konstruierten Pferde (Kruppe, Kruppenwinkel und der Einfluss der selben auf die Funktionalität des Rückens in Lektionen der allerhöchster Versammlung) gerade aufgrund ihrer spezifischen Seklettkonstruktion allemal besser als jeden Vollblüter i.s. der klassischen Lektionen. Was auf der Strecke bleibt, ist der Raumgriff und der Schub in seiner Ausprägung der "aufwändigen" Gangarten, wie wir sie heute sehen wollen. Die Hergabe des voranschubgegebenen durchschwingenden Rückens eben. Auch das wird in jedem Grand Prix der Berberrassen deutlich. Diese Kriterien unterstützt auch der englische Vollblüter nicht, aber er verstärkt das "negativ" Kriterium vielleicht etwas weniger, als das der Araber skelettbedingt (hohe Kruppe) nunmal tut. Das geringere zweier Übel eben, wenn man so will. Eine empirische Erkenntnis, die man sich zunutze machen kann, aber nicht muss. Je nachdem wie gross Leidenschaft und Geldbeutel sind, sich mit der notwendigen Konsolidierung über weite Erbfolgen und Generationen hinweg auseinandersetzen zu können oder wollen.

Münster, im Januar 2009




Es folgt ein Leserbrief an den Zuchtleiter des Westfälischen Pferdestammbuches und an die Reiter und Pferde in Westfalen und zum Einsatz von Vollbluthengsten in der Warmblutzucht und die Frage nach der Bring- oder Holschuld eines geeigneten Hengstkandidaten.
Anlass war das Interview mit Herrn Doktor Marahrens zum Thema "Schaufenster Vollblutzucht" in der Januarausgabe 2007 der Reiter und Pferde in Westfalen.
Der Brief wurde nicht abgedruckt jedoch persönlich von Herrn Doktor Marahrens beantwortet worüber ich mich sehr gefreut habe.

 

Sehr geehrter Herr Doktor Marahrens,

mit Erstaunen und Befremden habe ich Ihr Interview zum Thema "Schaufenster Vollblutzucht" in der Januarausgabe der Reiter und Pferde in Westfalen gelesen.

Ausserordentlich befremdlich empfinde ich Ihre Aussage: "Solange aus dem Vollblutlager nur Hengste präsentiert werden, die dort offensichtlich keine Verwendung mehr finden, werden nicht viele Hengsthalter den Mut haben, einen Vollbluthengst aufzustellen. ... andererseits wird uns der Zugang zu guten Hengsten verwehrt, da sie nur in der Vollblutzucht eingesetzt werden können."
Verwehrt???
Da drängt sich doch zunächst einmal die Frage nach der Bring- oder Holschuld eines geeigneten Hengstkandidaten für die Warmblutzucht auf:
die Unterstellung, dies sei eine Verpflichtung seitens der Vollblutbesitzer, den Warmblutverbänden entsprechende Kandidaten zu präsentieren, halte ich für geradezu verwegen. Ist dies nicht vielmehr ganz besonders eine Holschuld, die -aus der traditionellen Historie der deutschen Pferdezucht gewachsen- der Zuchtleitung eines Warmblutverbandes höchstselbst obliegt?
Wer, wenn nicht Sie, sehr geehrter Herr Doktor Marahrens, sollte den ersten Schritt tun geeignetes Material VOR ORT überhaupt zu sichten?
Eine Baronin von Ullmann oder Vertreter der Stiftung Fährhof werden sich wohl auch in Zukunft kaum auf dem Vorauswahlplatz in Handorf einfinden...
Darüberhinaus ist es doch wohl eine dringend überholte und weitverbreitete Fehleinschätzung, dass Hengste, die bei den Vollblütern offensichtlich keine Verwendung mehr finden, KEINE positiv nutzbaren Veredler für die Warmblutzucht abgeben - diese Einstellung grenzt ja schon nahezu an Ignoranz, sprechen doch die eigenen, eher mageren Rennleistungen einflussreicher Veredler in der Warmblutzucht eine klare Sprache: ein Sunlight in Hannover, der inzwischen sogar einen in Warendorf wirkenden Sohn stellt, weist mit nur zwei Rennjahren und einem GAG von gerademal 60,5 kg eine geradezu ärmliche Eigenleistung auf, dgl ein bewährter Vererber wie Prince Thatch, der es mit 79 kg GAG (*Quelle: Direktorium für Vollblutzucht und Rennen) auch nicht gerade zu Höchstleitungen brachte und ein Lauries Crusador höchstselbst dankte aufgrund einer Verletzung bereits dreijährig vom aktiven Rennsport ab. Von einem Ramzes, Cor de la Bryere oder Furioso wollen wir gar nicht reden. Ist es also nicht allerhöchste Zeit sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass nur Eigenleistung auf der Rennbahn mit der erfolgreichen Nutzung als Veredler in der Warmblutzucht gleichzusetzen ist?
Ob ein Vollblüter einige Sekunden mehr oder weniger für eine vorgegebene Distanz im Rennen benötigt mag Welten bewegen im Rennsport - seine über Generationen genetisch bedingten Vererbungsmerkmale für einen erfolgreichen Einsatz in der Warmblutzucht dürften davon jedoch kaum betroffen sein. Aussagen über Exterieurvererbung oder Einfluss auf die Grundgangarten als Reitpferd lässt ein rennsportlicher Erfolg allein kaum zu - "they run in all shapes" - dieser Spruch dürfte bei erfolgreichen Rennpferden noch heute seine Geltung haben - ganz anders, als das eben bei unseren heutigen Reitpferden der Fall ist.
Und gerade deshalb ist der Zugang zu geeigneten Hengsten für die Warmblutzucht gewiss nicht verwehrt - wie es die Beispiele der o.g. zeigen. Nur von alleine zufliegen - das werden sie uns ganz sicher nicht.

mit freundlichem Gruss und den besten Wünschen für ein erfolgreiches neues Jahr,
Ihre
Sabine Brandt,
Münster, 31.12.2006




16. Oktober 2010

In dem ausserordentlich informativen und gelungenen Katalog zur vierten Auflage der Veranstaltung "Schaufenster Vollblut - Vollblut trifft Warmblut", die heute  in Münster-Handorf stattfand, findet sich u.a. ein lesenwerter Bericht zu diesem Thema aus der Feder des Landstallmeister Dr. Gerd Lehmann a.D.
Als ich Dr. Lehmann fragte, ob ich diesen Bericht auf meiner Seite veröffentlichen dürfte, hat er mir sogleich seine Zustimmung gegeben, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass ich doch bitte den vorhandenen Druckfehler in seinem Sinne korrigieren möge - selbstverständlich handelt es sich um einen 70- und nicht um eine 80-Tage Test. Sehr verehrter Herr Doktor Lehmann, das erledige ich doch gern in Ihrem Sinne, nur mit der gewünschten Überarbeitung der zugehörigen Fotos gestaltet es sich noch etwas schwierig, weshalb diese dem unten stehenden Text zunächst fehlen.  (komplettiert im August 2011 - Anmerkung des Verfassers)
Mein herzlicher Dank gilt Herrn Dr. Lehmann und den Initiatoren des Schaufenster Vollblut, dem Warendorfer Rennverein, und hier ganz besonders Herrn Ferdinand Leve und seiner Mitarbeiterin Petra Dieckmann, die mir diesen Bericht freundlicherweise in verwendbarem Textformat zur Verfügung gestellt haben. Für all diejenigen, denen der Katalog zur Veranstaltung nicht vorliegt, hier also der wie ich meine sehr lesenswerte Bericht des geschätzten Landstallmeisters a.D.Dr. Lehmann:      


VOLLBLUT in der REITPFERDEZUCHT
                   - unverzichtbar -


Landstallmeister a. D. Dr. Gerd Lehmann, Warendorf

Zum wiederholten Male wird die vom Warendorfer Rennverein e.V. initiierte Veranstaltung Schaufenster Vollblut unter dem Motto „Vollblut trifft Warmblut“ im Westfälischen Pferdezentrum Münster-Handorf abgehalten. Ihre Vorläufer waren die Vollbluthengstschauen, die das Direktorium für Vollblutzucht und Rennen viele Jahre lang am Tag nach dem „Preis von Europa“ auf der Rennbahn in Köln durchführte. Bedauerlicherweise wurde diese wertvolle Schau, über die viele Vollblutbeschäler den Weg in die Reitpferdezucht fanden, aus dem hippologischen Terminkalender gestrichen.

Die deutsche Vollblutzucht hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Qualitätssprung vollzogen. Das Vollblutpferd aus deutscher Zucht weckt weltweit Begehrlichkeit. Eine Situation, die selbst der kühnste Optimist vor 25 Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Der Zuwachs an Qualität hat die Zahl der für die Reitpferdzucht in Betracht kommenden Beschäler steigen lassen. Dennoch ist der Aufwand, geeignete Beschäler aufzufinden, groß. Der Interessent wird ständigen Kontakt zu Rennbahnen, Trainern und Eignern zu halten haben. Auch der Blick über die Landesgrenzen ist unverzichtbar. Die erfreuliche Feststellung, dass gegenwärtig vermehrt gut modellierte Vollblutstuten in die Reitpferdezucht gelangen, ist der angespannten Marktlage im Vollblutbereich zu danken. Eine willkommene Chance.

Das Schaufenster Vollblut verfolgt die löbliche Absicht, Kontakte zu schaffen bzw. auszubauen.

Die grundsätzliche Diskussion zum Thema pro und contra Vollblutverwendung ist so alt wie die Reitpferdezucht selbst. Tatsache ist, dass alle Hengstlinien von Vollblutbeschälern begründet worden sind. Deshalb ist es ein Fauxpas bei deren Verwendung von Einkreuzung zu sprechen. Kreuzungen schaffen Bastarde. Bastarde will niemand!

Erstrebenswert ist der reitgerecht modellierte Vollbluthengst, der viele Starts mit ordentlichen Leistungen über mehrere Rennzeiten hinweg, schadlos überstanden hat. Die Höhe des General-ausgleichgewichts (GAG) ist dabei von nachrangiger Bedeutung.

Die Verfeinerung des Typs ist wegen der fortgeschrittenen Modellumgestaltung in den Reitpferdezuchten nicht mehr vordringlich. Prägnante Konturen und die Trockenheit der Textur bedürfen allerdings der stetigen Auffrischung. Der Charakter des Vollblüters ist, wie der anderer Edelrassen auch, sehr gut; menschenfreundlich. Sein Temperament ist naturgemäß lebhaft. Der ungeübte, ungeduldige oder derb hantierende Mensch kann diese Vorzüge rasch und dauerhaft verspielen.

                                     
                                                                               Akitos xx                                                                                                                         Bormio xx

                                          
 
                                                                         Game Fox xx                                                                                                                         Feuerfunke xx

Die Beschäler haben die passende Grösse und die gewünschte Substanz. Sie stehen auf einem absolut korrekten Fundament. Die makellose "Konstruktion" befähigt sie zu elastischen, raumgreifenden Grundgangarten.
     

Auf ausdrücklichen Wunsch Dr. Lehmanns möchte ich hier noch eine bemerkenswerte Feststellung hinzufügen, die aus dem abgedruckten Interview so nicht hervorgeht:
Dr. Lehmann wies mich darauf hin, dass alle der hier aufgeführten und in Warendorf stationierten Vollblüter auf deutschen Bahnen gelaufen sind und dort für die Warmblutzucht entdeckt und rekrutiert wurden. Diese Aussage soll der heute in der Öffentlichkeit gern verbreiteten Wahrnehmung entgegenstehen, man könne in Deutschland keine für die Warmblutzucht tauglichen Blüter finden weil es sie nicht gäbe.
Es gibt sie.
Damals noch und heute auch.
Man muss sie nur auch finden.   
  

Der Vollblüter erscheint als Garant für die Festigung der Gesundheit (Herz-, Lungenfunktion, Sehnen-, Bandapparat, Knochenkonsistenz) und der Konstitution im weitesten Sinne. Gerade sie hat in den zurückliegenden Jahren aus verschiedenen Gründen – nicht zum Schaden der Tierärzte – Einbußen erlitten. Ferner erhofft man die Verbesserung der Leistungsbereitschaft, der Leistungsfähigkeit und der für den Leistungssport so wichtigen Sensibilität. (Neuerdings hat sich die nicht sonderlich sympathisch klingende Floskel: „Sie müssen elektrisch sein“, in den Sprachgebrauch eingeschlichen). Schließlich sind es die reitrelevanten
Körperpartien, Genick, Ganasche, Halsansatz, Halsausformung, Schulter/Widerrist, Rückenformation, Lage und Länge der Kruppe, sowie die dem Reitgebrauch entgegenkommende Winkelung der Hintergliedmaßen. Alle die genannten Kriterien befördern im Zusammenspiel die Elastizität, die für ein
qualitätvolles Reitpferd unabdingbar ist.

Das Vollblutpferd verfügt in der Regel über einen guten Schritt. Es besteht, wie die Erfahrung lehrt, eine positive Korrelation zwischen Schritt- und Galoppsprunglänge. Der Schritt ist in der jüngeren Zuchtgeschichte in verschiedenen Reitpferdzuchten sträflich vernachlässigt worden. Ein Pferd mit einem schlechten Schritt ist für den Dressursport unbrauchbar. Auch der Freizeitreiter wünscht einen taktreinen, raumgreifenden und fleißigen Schritt.

Der Raumgriff des Trabes wird über den Vollblüter nur in Ausnahmefällen erweitert werden. In den meisten Reitpferdezuchten herrscht hieran kein Mangel. Vermehrt sieht man Pferde mit übertrieben langen Tritten, die aus festgehaltenem Rücken vorgetragen werden. Sie vermitteln ein miserables Sitzgefühl und stehen der Versammlungsfähigkeit entgegen.

Der Galopp des siegorientierten Vollblüters ist aus Gründen des Raumgewinns und der Kraftersparnis flach. Neunmalkluge, im Pferdemetier des Öfteren unüberhörbar, üben zu Unrecht Kritik daran. Sie befürchten eine Reduzierung des Springvermögens. Sie übersehen, dass viele der im internationalen
Springsport agierenden Cracks, Vollblut schon in den ersten Ahnengenerationen führen.

Die Qualität des Galopps wird, wie bereits gesagt, geprägt durch die zweckmäßige Winkelung der Hinterhandknochen zueinander. Die Winkelung ist die Grundvoraussetzung für das kraftvolle Vorschnellen der Kniegelenke. Sie ermöglicht das energische Beugen der Sprunggelenke. Diese Kriterien befördern beim Rennpferd die Länge des Galoppsprungs. Das Reitpferd befähigen sie zu der unverzichtbaren Hankenbeugung.

Das Zuchtziel des Vollblüters ist auf möglichst große Schnelligkeit im Galopp ausgerichtet. Es ist also recht einseitig ausgelegt. Exterieurkriterien scheinen bei Zuchtwahl nachrangig zu sein. Spitzenrennpferde haben dennoch eine aus der Sicht des Reitpferdezüchters dem Ideal nahe kommende Skelettkonstruktion. Beim Besuch von Rennbahnen lässt sich dieses trefflich beobachten. Starter in Klassischen Rennen, Grupperennen und hohen Ausgleichen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Körperbaus nachhaltig von denjenigen Pferden, die im Ausgleich IV ihr Dasein fristen.

Der leistungsstarke Vollbluthengst ist gut „konstruiert“. Er hat dem Reitpferd Modell gestanden!

Das Spektrum der Anforderungen an ein Reitpferd ist breit gefächert. Es reicht vom Spezialisten für die drei olympischen Disziplinen bis hin zum absoluten Verlaßpferd, das den wenig routinierten Reiter gefahrlos „spazieren trägt“.

Der klassische Ausbildungsweg, niedergelegt in der HDV 12 (Heeresdienstvorschrift von 1912), trägt den Ansprüchen edler, leistungswilliger Reitpferde Rechnung. Aus vielfältigen Gründen fehlt heute zu oft die Bereitschaft - oder die Fähigkeit -, den erprobten Weg, der zeitaufwendig ist, Geduld und Feingefühl erfordert, zu beschreiten.

Nachteilig für die Nachkommen edler Hengste wirken sich die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Leistungsprüfungsmodelle für Reitpferdehengste aus. So ist beispielsweise die von 100 Tagen auf 70 Tage reduzierte Stationsprüfung für alle Probanden zu kurz. Die Erfolgschancen der reiterlich später reifenden Vollblutsöhne werden minimiert. Schon die 100 Tage währende Stationsprüfung ließ edle, genetisch wertvolle Leistungsträger, sicherlich auch in gewisser Abhängigkeit vom Prüfungsort, scheitern. Als ganz besonders problematisch erweist sich der 30-Tage-Test in seiner augenblicklichen Durchführung. Die wissenschaftlich verbrämten Untersuchungen, die Prüfungsdauer betreffend, vermag der erfahrene Praktiker – auch bei bestem Willen – nicht nachzuvollziehen.

Wegen der Nutzungsunterschiede waren für die Warmblutzucht prädestinierte Vollblutbeschäler zu allen Zeiten dünn gesät. Das amerikanische Rennsystem
sollte nicht für die gegenwärtig zu Unrecht beklagten Auffindungsschwierigkeiten herhalten. Ohne Zweifel verändern kürzere Distanzen das Pferdemodell (Quarterhorses). Die Distanzen der Klassischen Rennen wurden in allen mit dem Rennsport ernsthaft befassten Ländern nur in Ausnahmefällen geringfügig verändert.

Das Studium der Pedigrees von Spitzensportpferden in der Dressur, im Springen und in der Vielseitigkeit belegt die Unverzichtbarkeit des Vollbluteinsatzes.
Unser Heimatzuchtland Westfalen hatte vor Jahren das Glück, in der Spitze der „World Breeding Federation of Sport Horses (WBFSH) – Wertung“ angesiedelt zu sein. Die in die Berechnung einbezogenen Leistungspferde waren durchweg, meist schon in den vorderen Generationen, mit Vollblut durchsetzt. Gleiches gilt für die siegreichen Olympiacracks der Jahre 1984, 1988 und 1992.

Zahlreiche zeitgenössische Autoren widmen dem Thema Vollblut interessante Beiträge. In der älteren Literatur finden sich eine Menge wertvolle Hinweise zum Einsatz von Vollblutbeschälern. Unverändert lesenswert sind die Klassiker: Graf Georg v. Lehndorff 1833-1914 (Landstallmeister in Graditz, Preußischer Oberlandstallmeister), dessen Sohn Graf Siegfried v.Lehndorff 1869-1956 (Landstallmeister Neustadt/D., Graditz, Trakehnen, Braunsberg), Burchard v. Oettingen 1850-1923 (Landstallmeister Gudwallen, Beberbeck, Trakehnen, Preußischer Oberlandstallmeister), Franz Chales F. de Beaulieu 1899-1993 (Generalsekretär des Union-Clubs; nach 1945 des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen).

Die genannten Hippologen verfügten über einen in der heutigen Zeit nahezu unvorstellbaren, praktischen Erfahrungsschatz.

Landstallmeister a. D. Dr. Gerd Lehmann
Warendorf, im Oktober 2010


Es folgt das diesem Bericht zugrunde liegende Interview mit Dr. Gerd Lehmann:

Dr. Gerd Lehmann (Warendorf-Milte), 1933 im ostpreußischen Pfälzerwalde in der Nähe von Trakehnen geboren, leitete als Landstallmeister von 1966 bis 1995 das Nordrhein-Westfälische Landgestüt in Warendorf. Im Rahmen des Umzüchtungsprozesses setzte sich der promovierte Agrarwissenschaftler immer wieder für den Einsatz von Vollblütern in der Warmblutzucht ein. Heute ist er einer der wenigen Warmblutexperten, die auch noch über fundiertes Wissen aus dem Vollblutbereich verfügen. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes wurde 1995 von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) für seine großen Verdienste um die deutsche Pferdezucht mit dem Deutschen Reiterkreuz in Gold ausgezeichnet.

Frage: „Warum ist der Einsatz von Vollblütern für die Warmblutzucht so wichtig?“
GL: „Alle heute aktuellen Reitpferderassen sind mit Hilfe von Vollblutbeschälern entwickelt worden. Vollblutbeschäler sind also die Stammväter der Reitpferdezuchten. Übrigens hört man im Zusammenhang mit dem Vollbluteinsatz immer wieder die Vokabel „Einkreuzung“. Dieser in der Pferdezucht ein wenig anrüchige Ausdruck ist unpassend. Schließlich hat der Vollblüter bei der Entstehung der Reitpferderassen Pate gestanden. Die erneute Zufuhr seines Blutes ist nichts Fremdes. Kreuzungen schaffen Bastarde. Diese will kein Pferdezüchter.

Der Einsatz des Vollblüters ist auch in der gegenwärtigen Zuchtphase unverzichtbar. Der solide leistungsgeprüfte Hengst, der mehrere Rennzeiten mit möglichst vielen Starts unbeschadet überstanden hat, gilt als Garant für Gesundheit und Härte. Er verbessert die Herz- und Lungenfunktion. Er festigt den Sehnen- und Bandapparat und die Knochenkonsistenz. Er sorgt für die Markanz der Körperkonturen und die Trockenheit der Textur. Der Vollblüter dient der Verbesserung der Konstitution im weitesten Sinne. Die zeitnahe Erfahrung lehrt, dass Mängel im Bereich dieser leistungsbestimmenden Kriterien mehr und mehr durch veterinärmedizinische Kunst ausgeglichen werden müssen.

Der gut modellierte, also reitgerecht konstruierte Vollblüter verbessert zudem die für den Sport so wichtige Elastizität. Das erfolgreiche Rennpferd verfügt in aller Regel über einen guten Schritt, den verschiedene Reitpferdezuchten in jüngerer Zeit etwas stiefmütterlich behandelt haben. Der Raumgriff des Trabes bedarf derzeit keiner Erweiterung. Wohl aber dessen federnde Leichtigkeit, die ein vergnügliches Reitgefühl vermittelt.
Der Galopp, die eigentlich wertbestimmende Gangart des Vollblüters, kann nur aus einer vorbildlich gestalteten Hinterhand, bei der die Winkelung der Gelenke richtig austariert ist, entwickelt werden. Diese optimale Winkelung gibt dem Reitpferd die Möglichkeit des energischen, Raum gewinnenden Vorschubs. Sie befähigt es zur Gewichtsaufnahme und der unverzichtbaren Hankenbeugung.

Das gelegentlich in Laienkreisen kursierende Argument, der flach vorgetragene Galopp des Vollblüters reduziere das Springvermögen des Reitpferdes, wird widerlegt durch die Abstammungstafeln zahlreicher berühmter Cracks im internationalen Springsport.“

Frage: "Wie hat sich die Nutzung von Vollblütern in der Warmblutzucht in den vergangenen Jahren verändert? Nicht wenige Vertreter der Warmblutzucht sind der Meinung, dass mit Abschluss des Umzüchtungsprozesses der Einsatz von Vollblütern in ihrer Zucht eigentlich obsolet geworden ist. Was halten Sie von dieser These?“
GL: „Der Umzüchtungsprozess vom warmblütigen landwirtschaftlichen Arbeitspferd zum Reitpferd ist abgeschlossen. Angesichts der eben schon
angesprochenen Wertmerkmale, die Vollblutgene in die Reitpferdezucht einzubringen haben, brächte ein lang anhaltender Verzicht unüberschaubaren Schaden. Ich bin noch keinem ernstzunehmenden Menschen begegnet, der dauerhafte Abstinenz propagiert.“

Frage: „In der Warmblutzucht bestehen gegenüber der Nutzung von Vollblütern heute diverse Vorurteile. Was sagen Sie dazu?“
GL: „Vorurteile sind in der Regel vorschnell und häufig unbegründet. Die Bequemlichkeit, nicht etwas tiefschürfender nachzudenken, kreiert Vorverurteilungen. Grund für die Zurückhaltung beim Einsatz von Vollblutbeschälern ist die Tatsache, dass das Vollblutkind eine solide Ausbildung verlangt. Der klassische Ausbildungsweg, in der berühmten HDV (Heeresdienstvorschrift) 12 niedergelegt, wird aus Unkenntnis oder vermeintlichem Zeitmangel zu selten beschritten. Vielen Menschen fehlt die Gelassenheit. Ungeduldige, grob mit der Hand agierende Ausbilder verprellen ein junges Edelpferd, das dem Menschen von Natur aus zugetan ist, irreparabel. Diese Menschen verspielen fahrlässig die Chance, sich die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des edlen Partners nutzbar zu
machen.“

Frage: „Sehen Sie schon heute negative Auswirkungen in der Warmblutzucht als Folge des abnehmenden Einsatzes von Vollblütern?“
GL: „Die Probleme zeichnen sich bereits ab. Die deutschen Warmblutzuchten sind aufgrund ihrer soliden Struktur führend in der Welt, wenn man die Turniererfolge auf internationaler Bühne als Maßstab nimmt. Diese erfreuliche Situation ist geschaffen worden durch die Züchtervereinigungen, deren einflussreichste das Alter von 100 Jahren überschritten haben. Gestützt wurden die Züchter in den meisten Provinzen durch Landgestüte. Diese garantierten Kontinuität und durchdachte Zuchtarbeit auch in den Zeiten des Niedergangs in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Zwischenzeitlich können unsere europäischen Nachbarn enorme Zuchtfortschritte, häufig basierend auf Zuchtmaterial aus deutschen Landen, verzeichnen. In ihren Zuchten, vornehmlich in der Hollands, spielen Vollbluthengste eine bedeutsame Rolle. Der Erfolg der Mitbewerber, der nicht mehr zu übersehen ist, wird die Verantwortungsträger hoffentlich veranlassen, den Einsatz erstklassiger Vollblutbeschäler neu zu überdenken. Übrigens, diejenigen Pferde, die Westfalens Zucht in jüngerer Vergangenheit durch herausragende sportliche Leistungen zu Weltruf verhalfen, führten wertvolles Vollblut in den ersten Ahnengenerationen.“

Frage: „Welche weitere Folgen wird der mangelnde Einsatz von Vollblütern für die Zukunft der Warmblutzucht haben?“
GL: „Ein dauerhaft zurückhaltender Einsatz von Vollblut muss sich zwangsläufig negativ auf die Gesundheit, die Elastizität und die Leistungsfähigkeit auswirken.“

Frage: „Anders als vor dem Zweiten Weltkrieg haben sich hierzulande Vollblut- und Warmblutzucht in den vergangenen Jahrzehnten immens auseinander entwickelt. Heute gibt es nur noch wenige Warmblutzüchter, die auch über ein umfassendes Wissen aus dem Vollblutbereich verfügen. Umgekehrt dürfte es sich genau so verhalten. Was ist der Grund für diese Entwicklung?“
GL: „ Das kann ich nicht bestreiten. Sicherlich ist dieser Zustand bedingt durch die unterschiedlichen Nutzungsformen des Vollblut- und des Warmblutpferdes. Ersteres ist auf größte Schnelligkeit in der Gangart Galopp ausgelegt. Bei oberflächlicher Betrachtung wird übersehen, dass zu dieser Leistung ein sehr gutes Innenleben gehört. Um die Leistungsfähigkeit zu entfalten, ist ein ordentliches Temperament vonnöten. Der irre Vollblüter verliert das Rennen schon am Start.

Die Ansprüche an die Rasse Reitpferd sind vielgestaltig. Eine Reitpferdepopulation hat ein breites Spektrum von Wünschen abzudecken. Dieses Spektrum reicht vom völlig unkomplizierten Pferd, das den unerfahrenen Reiter gefahrlos spazieren trägt, bis hin zum leistungsstarken Spezialisten für die drei olympischen Disziplinen. Die vielen Turnierveranstaltungen im Reitpferdebereich füllen die Terminkalender des Reitpferdezüchters. Er findet nicht mehr die Zeit, die Rennveranstaltungen zu besuchen. Der in die Vollblutzucht involvierte Mensch verspürt nur in ganz wenigen Ausnahmefällen das Bedürfnis, Veranstaltungen auf dem Sektor Warmblut anzuschauen.“

GL: „Diese Situation ist vornehmlich aus der Sicht des Reitpferdezüchters bedauerlich. Ihm entgehen Informationsmöglichkeiten zu einer Rasse, auf deren Nutzung er, wie bereits gesagt, auf die Dauer nicht schadlos verzichten kann. Die Vollblutszene schätzt das Absatzvolumen in Richtung Reitpferdezucht gering ein. Daher die relativ geringe Gegenliebe.

Die von dem rührigen Ferdinand Leve, dem Vorsitzenden des Warendorfer Rennvereins, initiierte Veranstaltung -Vollblut trifft Warmblut – ist ein begrüßenswerter Brückenschlag. Die Bereitschaft im Vollblutbereich, ich denke hier an die Trainer und die Pferdeeigner, dieses Treffen mit attraktiven, gut herausgebrachten Pferden zu beschicken, hält sich leider noch ein wenig in Grenzen. Nur gut aufgemachte Modelle vermögen den verwöhnten Warmblutzüchter anzulocken.
Bedauerlicherweise lässt sich die Vollbluthengstschau, die das Direktorium viele Jahre lang auf der Rennbahn in Köln veranstaltete – wohl aus finanziellen Gründen – nicht neu beleben. Von dort aus fanden viele Beschäler den Weg in die Reitpferdezucht. Ich hielte es für nützlich, wenn die größeren, absolut sehenswerten Vollblutgestüte Gruppen von Reitpferdezüchtern – in passender Jahreszeit – die Möglichkeit zu Besuchen böten.“


Frage: „Woran erkennt man einen für die Warmblutzucht tauglichen Vollblüter?“
GL: „Vielleicht hätte dies die erste Fragen sein sollen. Der für die Reitpferdezucht interessante Vollblüter muss das Reitpferdemodell verkörpern. Er muss großrahmig und markant sein. Er muss die Merkmale seiner Rasse, den Typ, möglichst perfekt zur Schau stellen. Das Gesicht des Vollblüters muss Freundlichkeit ausstrahlen. Neben dem passenden Stockmaß ist es das Körpervolumen, das Attraktivität bewirkt. Breite und Tiefe sind unverzichtbar. Noch nie hat ein hochbeiniger, schmalbrüstiger Vollblüter nachhaltig Resonanz in der Reitpferdezucht gefunden.

Ein leichtes Genick und die entsprechende Ganaschenpartie wünscht man sich vom Veredler. Aus einer großen Schulter, die ein markanter Widerrist ziert,
wächst ein wohlgeformter Hals in passender Länge heraus. Die Rückenpartie ist reitgerecht geschwungen, die Lendenpartie mit langen Querfortsätzen versehen. Besonders bedeutsame Kriterien sind Kruppenlänge und Kruppenneigung. Beide stehen in engem Zusammenhang mit der die Leistung befördernden Winkelung der Hinterhand. Ein korrekt gestelltes, trockenes Fundament steht vorn auf der Prioritätenliste.

Sie werden zu Recht die Frage stellen, wie sind diese Idealvorstellungen zu projizieren auf eine Rasse, deren Zuchtziel allein auf Schnelligkeit ausgerichtet ist. Der Aspekt Korrektheit des Exterieurs scheint in der Vollblutzucht vordergründig betrachtet, nachrangig zu sein. Das Streben nach optimaler Rennleistung führt aber konsequent zu derjenigen Skelettkonstruktion, auf die auch der Reitsport setzt. Dem Besucher von Rennveranstaltungen fällt auf, dass diejenigen Pferde, die die anspruchsvollen Rennen bestreiten, ich denke an die klassischen Rennen, die Gruppe-Rennen, aber auch die hohen Ausgleiche, denjenigen in der
Exterieurausformung überlegen sind, die im Ausgleich IV ihr Dasein fristen.
Der im Rennsport erfolgreiche Hengst ist gut konstruiert. Nicht von ungefähr stand er Pate bei der Entstehung der Reitpferdezuchten.“


10.1.2021

Zuchtfortschritt Vollblut

Nachdem das Thema kürzlich auf diesen Seiten unter "Meinung" seinen Platz fand, fragte ich auch Dr. Lehmann wie er den Zuchfortschritt der letzten Jahrzehnte beim Vollblut beurteilt?

Wenn wir auch heute in Deutschland hauptsächlich vom Klassiker der 2400 Meter Distanz als "lange" Distanz reden, so gibt es tatsächlich auch heute noch echte "lange" Distanzen von 3.000 Metern und mehr, vornehmlich im angelsächsischen Ausland und Frankreich. Diese Pferde rekrutieren sich jedoch aus der selben Genetik, wie wir sie auch für die klassischen Rennen kennen. Ein Steher ist eben ein Steher. Der willkürliche Nutzen einiger weniger dieser Renner für "echte" Langdistanzen macht genetisch noch kein anderes Pferd.

Misst man den Zuchtfortschritt der letzten Jahrzehnte allein in Speed, so erschöpft die Bemessung sich in bis zu 5 Sekunden verbesserte Bahnrekorde diverser Langstreckenrennen. Ist das Zuchtfortschritt? 

Einen wesentlicher Aspekt räumt Dr.Lehmann in diesem Zusammenhang der Verbesserung der Geläufe in den zurückliegenden Dekaden ein. Er stützt sich auf die Erfahrungen eines Trainers in Newmarket, die verbesserte Bodenbeschaffenheit der Rennbahnen käme den häufig auf flachen Trachten stehenden Blütern heuzutage sicherlich mehr entgegen als das noch vor vielen Jahren der Fall war. Selbst wenn dieser Aspekt keinen direkten Einfluss auf den Speed haben sollte - der vermeintlichen Haltbarkeit und Laufleistung der Pferde gemessen in Jahren kommt sicherlich entgegen [Anmerkung des Verfasser].

Fünf Sekunden mehr oder weniger auf einer echten "langen" Distanz haben den Vollblüter an sich jedoch nicht verändert. Ein Lauries Crusador xx  war schon damals (und ist es noch heute) ein klassisches Modell. Dr. Lehmann geht hierbei sogar zurück bis Alchimist und Oleander. Pferde mit einem Anspruch an Linien und Ausprägung, wie sie noch heute "modern" seien. Sein Favourit in diesem Zusammenhang ist stets Akitos, insbesondere auch in Hinblick auf die glorreiche Schlenderhaner Stutenfamilie dahinter. Ein formschön modellierter Hengst, der aus seinem ersten Jahrgang nicht ohne Grund gleich sechs bis acht Töchter auf der damaligen Eliteschau stellte.

In diesem Zusammnehang bat Dr. Lehmann mich, dieser Collage aus dem Jahr 1988 ebenso einen Platz auf dieser Seite zu widmen. Dem Wunsch komme ich gern nach! Die Abstammung der Westfälischen Olympioniken 1988 unter Vollblutaspekten: 
 

                                                        





Dezember 2022

Vom weitverbreiteten falschen Verständnis von Blutpferd und Veredlung

Bereits im Mai 2022 erschien im Hannoveraner Verbandsmagazin ein umfangreicher Artikel zum Vollbluteinsatz in der Warmblutzucht mit dem Titel:

                                                                                                        "Auf das Individuum kommt es an". (Zum PDF anklicken)

Begleitet wurde das Ganze von einem Kommentar von Zuchtleiter Ulrich Hahne mit dem Titel: "Wir brauchen die Veredlung im Kopf!"

Schon damals konnte ich dem Artikel nur wenig abgewinnen, weshalb die Zeitschrift zügig von meinem Wohnzimmertisch verschwand. Aktuell wurden Artikel und Kommentar nun im Hannoveraner Forum diskutiert, was grundsätzlich zu begrüssen ist. Wenn Vollbluteinsatz jedoch vornehmlich unter Aspekten wie "fein", "zart" und "modern" diskutiert wird, regt das in erster Linie meinen Widerspruch an, den ich hier gern auch meinungsbildend zur Diskussion stelle:

....ich denke, das ist eine von vielen Aussagen in dem o.g. Artikel, die nicht nur falsch, sondern auch in hohem Masse irreführend ist.
Weil dem ein völlig falsches Verständnis von dem zugrunde liegt, was Vollbluteinsatz in der Sportpferdezucht überhaupt bewirken soll.

Es geht bei Vollbluteinsatz nicht um "hochbeinig", "zart" oder "modern".
Es geht um Muskelfasertonus und physische Eigenheiten des Vollblüters, und welchen Mehrwert diese bei hoher Belastung bringen. Biochemie. Laienhaft ausgedrückt kann man von "relativer Leichtfüssigkeit" iS von geringerem Aufwand bei physischer Belastung sprechen. Das ist extrem relevant bei Springpferden, weil hier in Parcours und Stechen maximale Anforderungen in kürzester Zeit abgefordert werden. Ganz ähnlich wie beim Rennpferd.

In diesem Zusammenhang ist Veredlung als physischer Messwert relevant, weil er Aussagen zulässt, wie schnell die Pferde nach entsprechender Belastung wieder "entspannen" - iS von regenerieren.
Schnellere relative Regeneration erlaubt baldigere (wieder)Belastung. Simpel ausgedrückt heisst das, der eine Organismus verträgt mehr 5* Sterne Prüfungen im Jahr als der andere. Spätestens an dieser Stelle sollte auch der Marktgedanke eine Rolle spielen, wenn Leistunspferdezucht das Ziel ist.

Die Aussage zur Regenerationsfähigkeit ist deshalb wichtig, weil sie indirekt Verschleisswerte über die Lebensdauer und damit Einsatzdauer eines Sportpferdes impliziert. Ein schwer(fälliger)er Körper ist bei häufig geforderter schneller Höchstleistung früher verschlissen als ein leicht(füssiger)er, regenerativerer Organismus. Allgemeinverständnis, keine hohe Wissenschaft.

Hierzu gab es im Vorfeld der Olympischen Spiele bei den Test Events in Hongkong interessante Auswertungen, von denen Martin Plewa berichtete, der als verantwortlicher Offizieller seinerzeit in Hongkong mit dabei war. Es sind Erkenntisse wie diese, die Bestandteil eines solchen Artikels sein sollten, weil sie auf messbaren Fakten basieren und nicht persönliche unsachgemässe Meinung oder falsch verstandene Zeitgeistaspekte wiedergeben (Bsp Paul Schockemöhle / Sandro Hit). Ein Sandro Hit mit 32% Blutanteil ist mitnichten ein "Veredler". Wenn alle Welt das glaubt und es darüberhinaus überall wiederholt wird, sagt das viel aus über die Macht der PR und meinungsbildenden Einfluss eines Paul Schockemöhle, und noch mehr über das allgemeine Unverständnis von Veredlung. Es hat mich sehr erstaunt, eine solche Aussage in einem Artikel von sachverständigem Anspruch zitiert zu finden. Bei den Autoren handelt es sich immerhin um Akademiker.

Die Erkenntnis von der unterschiedlichen Konditionierung und Regeneration höher im Blut stehender Pferde bestätigte einige Jahre später Andreas Dibowski im Gespräch, als es um die Vorbereitung zur WM der jungen Vielseitigkeitspferde und sein recht blutloses Erfolgspferd FRH Corrida ging (31 Prozent VB Anteil). Ein solches Pferd konditionell auf eine so anspruchsvolle Strecke wie die WM in Le Lion d'Anger vorzubereiten, erfordert deutlich mehr Aufwand und damit Kilometer auf der Uhr (Belastung, Verschleiss), als bei einem höher im But stehenden Pferd. Weil das so ist, fordert der verantwortungsbewusste Reiter so ein Pferd weniger häufig auf höchstem Niveau. Jedenfalls dann, wenn eine möglichst lange Lebenslaufleistung des Pferdes das Ziel ist.

Die Ermittlung des durchschnittlichen Vollblutanteils innerhalb der Top-100 des FEI Rankings (im Rahmen einer Bachelorarbeit, die der Artikel zitiert) ist mE ebenso aussagelos wie die Anzahl der Generationen, aus denen der Blutanteil sich rekrutiert (33,4 % über 9 Generationen), oder die Zufuhr des spezifischen Blutanteils durch unterschiedliche Vollblutarten (ox, AA, xx). Wenn überhaupt FEI Rankings von Aussagekraft sind, dann muss man sich die jeweiligen Spitzenproduzenten der Rankings ansehen und deren individuellen Vollblutanteil hinterfragen, weil allein das möglicherweise Aussagen darüber zulässt, wieso diese Hengste und ihre Nachzucht (überdurchschnittlich) besser als andere unterwegs sind.

Ich habe daher die aktuelle WBFSH Rankings der Top-10 Spitzenspringhengste um die individuellen prozentualen Vollblutanteile lt HorseTelex ergänzt (dafür muss man nicht studiert haben) und war selber ganz verblüfft von dem augenöffnenden Ergebnis:

1. (1.) Chacco Blue 50%
2. (2.) Diamant de Semilly 51,5%
3. (4.) Mylord Carthago 55%
4. (14.) Kannan GFE 37,5%
5. (6.) Toulon 41%
6. (3.) Casall 48%
7. (5.) Cardento 57%
8. (12.) Eldorado vd Zeshoek 42%
9. (11.) VDL Zirocco Blue 40,5%
10. (13.) Diarado 52%

Der durchschnittliche Vollblutanteil der Spitzenspringvererber liegt zwischen 40-50% und sogar darüber! Das spricht für sich selbst und liegt aus gutem Grund weit über dem durchschnittlichen Vollblutanteil von 30% der heutigen Sportpferdepopulation. Hochleistungsspringpferde und Rennpferde haben doch mehr gemeinsam, als man denkt: kurzzeitig geforderte Höchstbelastung dürfte eine wesentliche Gemeinsamkeit sein. Es hat seinen Grund, dass gerade Springpferdezüchter viel Wert legen auf hoch im Blut stehenden Hengste. Und es ist nicht die plakativ gefordete Schnelligkeit im Stechen, die hier bezeichnend ist. Unter den o.g. Hengsten sind einige "Schlachtschiffe" und Tanker dabei. Dennoch markieren diese Hengste die Weltspitze. Die Antwort dürfte in der Biochemie begründet liegen. Das einmal zu analysieren fordert in der Tat akademischen Anspruch.

Vor diesem Hintergrund -und nur vor diesem Hintergrund!- muss die Diskussion von Veredlung geführt werden, wenn sie sinnvoll sein soll.
Mitnichten ist daher "die Veredlungsphase weitgehend abgeschlossen", wie der Artikel schreibt, denn eine andere "neue Definition von Blutpferd" gibt es nicht.
Bestenfalls ein weitverbreitetes falsches Verständnis von Blutpferd und Veredlung.





zum Seitenanfang

zurück