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                                        Ostpreussen - eine Reise in die Vergangenheit
 

                                                                           

Neun Tage Programm, und was für ein Programm war das, zu dem die Reisegruppe um den Trakehnen Verein Ende August antrat!
Mit dem Fährschiff ging es von Kiel über die Ostsee ins littauische Memel (Klaipeda), von dort übers Haff auf die Kuhrische Nehrung, eintauchen in eine Landschaft wie der Unkundige sie sich wohl kaum schöner hätte vorstellen können. Die Seeküste erinnert an Sylt, die Küste zum Haff bezaubert durch pitoreske Fischerdörfchen von urältestem Charme. Im malerischen Dörfchen Nidden ist noch heute das einstige Feriendomizil des Schriftstellers Thomas Mann zu besichtigen.
(reichlich sehenswerte Fotos zu allen genannten Schauplätzen gibt es hier)
                                                                                          
Das Überschreiten der Grenze nach Russland ist der Eintritt in eine völlig andere Welt. Brachliegende, unbestellte Felder, verstrauchte Landschaft so weit das Auge reicht. Die einstige Kornkammer des preussischen Reiches wildert dahin. Der Pregel mäandert unberührt durch die Landschaft und verschafft ihr wertvolle ungenutzte Fruchtbarkeit. Wo früher stolze Rösser und satte Viehherden weideten grasen heute vereinzelt angekettete Rinder neben versprengten Wohnhäusern oder Ruinen. Wehmut und Trauer.
Dieses Land hätte so viel zu bieten, und doch ist der Verfall offensichtlich und tut weh.
Wie wird es uns wohl in Trakehnen ergehen?

Über Königsberg und Insterburg fiebert jeder dem Tag entgegen, an dem es endlich zur Perle der einstigen ostpreussischen Pferdezucht geht - dankbar sind wir jedes Mal aufs Neue wenn Klaus Hagen, unser mitgereister Ostpreusse, zum Mikrofon greift und aus Erinnerungen seiner Jugend erzählt, je näher wir Trakehnen kommen. Die lange Allee zum Mittelpunkt Trakehnens ist längst erreicht, es holpert und poltert, der Bus ächzt in manch einem Schlagloch der kaum befestigten Strasse. Ach, wären es doch nur die Schlaglöcher...

                                                                                              

Herr Hagen nennt Gebäude und ihre einstigen Funktionen, in ihrem heutigen Zustand kaum wieder zu erkennen. Wir überqueren den Pissakanal, oft zitiert als unbedingter Bestandteil der berühmten Trakehner Jagdgesellschaften, die Fahrt geht durch dichten Baumwuchs, plötzlich strahlt das weisse Trakehner Tor vor uns - es suggeriert eine längst vergangene Herrlichkeit. Der Bus kommt vor dem Landstallmeisterhaus zum stehen, das "Schloss", in dem heute eine Schule untergebracht ist. Wir purzeln in den Park. Dichte Eichen haben sich hier ihre Herrschaft erhalten, das Blattwerk täuscht malerisch über die dahinter liegenden Wohnhäuser hinweg. Frei und ganz sicher lebensfroh stolzieren hier heute die Hühner umher - ein stolzer Gockel mittendrin.
Unwillkürlich muss ich an Iwan, unseren Reiseführer denken...

                                                                                       
Der Empfang im Schloss ist herzlich, alte Bekannte werden umarmt und "gebutscht", dank des fleissigen Deutschlehrers Ivan Kuznetsov klappt die Verständigung reibungslos. Mitunter spielt die Sprache aber auch gar keine Rolle, es gibt Dinge, die gehen einfach tief unter die Haut, ganz egal in welcher Sprache:
ein solches "Ding" war der Gesang von Anja, Schülerin in Trakehnen und mit einer Stimme gesegnet, die ihresgleichen sucht. Anjas Intonation vom Ännchen von Tharau lies Gläser surren und Tränen kullern - so schön. Die Affinität zum Lied war seit dem Besuch in Klaipeda (hier war das Ännchen von Tharau Denkmal besucht worden und man hatte die Geschichte der braven Pastorentochter kennengelernt) bei der gesamten Gruppe vorhanden, Anjas einmaliger Gesang tat sein übriges - Emotionen nationenübergreifend und auch die gestandenen Herren unter den Gästen rieben sich verstohlen die Augen. Selten dürfte der kleine Museumsraum im Landstallmeisterhaus in Trakehnen einen solchen Applaus gehört haben, es wollte gar nicht wieder aufhören zu klatschen, man war berührt.
Das sind die Momente, dafür lebt man wohl.
                             

Anlässlich des Besuches aus Deutschland werden die gerade neu und mit viel Liebe erstellten Porträts der diversen Landstallmeister von Trakehnen erstmals öffentlich präsentiert - sie werden künftig eine anschauliche Bereicherung für das Museum darstellen.
Der Rundgang durch das kleine Museum beschliesst den Hausbesuch im Landstallmeisterhaus, die Gruppe verteilt sich auf dem Gelände, der gelebten Geschichte auf der Spur.



                                  
                           
                            Nachtigallengesang


Passend an dieser Stelle ein Auszug aus dem Artikel "Trakehnen ist wieder eine Reise wert!" von Dr. Horst Willer:

"Dass Trakehnen nun die offizielle Ortsbezeichnung Jasnaja Poljana trägt ist nur eine Äußerlichkeit. Auch dass auf den weitläufigen Weiden Trakehnens seit Kriegsende keine Pferde mehr weiden ist bekannt. Aber nur wenig von dem, was die Größe, den Glanz und die Einmaligkeit jenes Paradestücks der Preußischen Gestütsverwaltung ausmachte, ist noch übrig geblieben oder nur noch in der Grundstruktur und in Spuren sichtbar. Auch heute noch führt eine Hauptzugangstraße über den Pissa-Kanal, jenes spektakuläre Hindernis, das so oft während der Trakehner Jagden durchquert werden musste. Von den Ufern her ist der ehemals funktionsfähige Entwässerungskanal total zugewachsen. Die nicht mehr intakten Dränagen und Grabensysteme haben im Zeitablauf aus den ehemaligen fruchtbaren Weiden, Wiesen und Äckern großflächige Feuchtbiotope und Brachflächen entstehen lassen. Die am Bahnhof Trakehnen beginnende fast sechs Kilometer lange und mit alten knorrigen Eichen bestückte Allee hat die Zeit überdauert. Das Vorwerk Bajohrgallen, an dem sie vorbeiführt, ist nur noch durch einige Mauerreste erkennbar. Ein ähnliches klägliches Bild bieten mit Ausnahme des Vorwerks Kalpakin, wo einst die viel gerühmte braune Herde stationiert war, viele andere Vorwerke. Da einige von ihnen bereits während der letzten Kriegshandlungen in einer Hauptkampflinie gelegen haben, sind sie bereits gegen Ende des Krieges fast vollkommen zerstört worden. Aus der ehemaligen Sowchose in Jasnaja Poljana ist nach der Wende eine Agrargenossenschaft entstanden. Deren Rindviehbestände sind in den noch teilweise vorhandenen aber baufälligen ehemaligen Stuten- und Fohlenställen sowie dem legendären Auktions-und Jagdstall, die innen wie außen großen Schaden genommen haben, mehr schlecht als recht untergebracht. Die Sommerresidenzen der Hauptbeschäler können nur noch in ihren Grundmauern ausgemacht werden.
Der legendäre Gasthof Elch ist als Lagergebäude unversehrt geblieben, ebenso die ehemalige Apotheke, die später zum Gasthaus umfunktioniert wurde. Auch das Trakehner Tor und das Landstallmeisterhaus, deutlich gezeichnet durch den Zahn der Zeit, sind heil geblieben und können trotz aller Wehmut, die viele Besucher am Ort überkommt, wieder zumindest für kurze Momente freudige Blicke auf sich lenken. Das Herzstück Trakehnens ist erhalten geblieben, dabei sollten der abbröckelnde Putz, der fehlende Turm, die verotteten Fenster und die schadhaft gewordenen Dächer zunächst zweitrangig sein. Hinter dem Trakehner Schloss ist der ehemals repräsentative Park mit dem kleinen See einem Fußballplatz gewichen. Auf ihm tummeln sich täglich viel Jugendliche. Sie gehören zu der Haupt- und Mittelschule, die bereits nach Kriegsende in dem Landstallmeisterhaus
eingerichtet wurde. Den meisten Schülern, Kinder von dort freiwillig oder zwangsweise angesiedelten Familien aus Kasachstan, Kirgistan und anderen Regionen des ehemals riesigen Sowjetimperiums, dürfte bis dahin gar nicht bekannt und bewusst gewesen sein, in welchem geschichtsträchtigen Haus sie täglich unterrichtet werden."

Die noch erhaltene Gebäudesubstanz lässt erahnen, welch eine Bedeutung und Grösse dieses Trakehnen seinerzeit inne hatte. In dem einst imposanten Jagdstall von 150 Meter Länge hausen heute Rinder, die Fensteröffnungen sind mit Plastikplanen verklebt. Die ehemalige Reithalle ist gänzlich unzugänglich gemacht worden, die verbliebenen Gebäude und Ruinen erzählen ihre Geschichte weniger ob ihrer heutigen traurigen Selbstdarstellung als vielmehr in ihrer Anordung zueinander über dieses riesige verwachsene Areal verteilt - man begreift, dass dies eine exzellent durchdachte, funktionierende und vor allem eigenständige Stadt von grosser Bedeutung war. Geschichte zum anfassen eben und ein dicker Kloss im Hals.

    ehemaliger Zugang zum Reitburschenhaus
                                                                               

Die Abfahrt aus Trakehnen ist getragen von gemischtesten Gefühlen und grosser Nachdenklichkeit. Wehmut eben und eine Spur von Trauer sicher auch - und doch will sich niemand diesen Besuch und das Erlebte nehmen lassen - weil es eben Dinge gibt, die gehen einfach tief unter die Haut. 

Vor diesem Hintergrund erhalten die zahlreichen Besuche der übrigen Gestüte, darunter Georgenburg bei Insterburg sowie das ehemalige Trakehner Gestüt im heute polnischen Rastenburg (heute ein staatliches Hengstdepot mit vornehmlich Kaltbluthengsten) eine ganz andere Bedeutung. Ganz besonders das polnische Gestüt Lisky beschert sehenswerte Eindrücke einer zeitlosen Pferdezucht. Der Kontrast zum pompös anmutenden Ogiery Romanowski könnte nicht grösser sein.

Der ostpreussische Diminutiv ist mittlerweile zu unserem liebsten Freund geworden. Grossen Anteil hieran trägt unsere charmante polnische Reiseleiterin, deren glockenreines Stimmchen die komplette Reisegesellschaft stets aufs neue mit ihren Erzählungen begeistert:
"Mariellchen" wird zum geflügelten Wort und grundsätzlich fährt man hier in einem "Autochen" und nicht in einem "Auto" dahin und überhaupt sind es von hier nur einhundert "Kilometerchen" bis Königsberg...
Balsam für das Seelchen!

                                                                                 

Die Reise findet ihren Abschluss mit einem ausgedehnten Aufenthalt in den zauberhaften Masuren, eine einzigartige Landschaft in einem Polen, das sich ganz zweifelsohne zu einer sehenswerten Perle unter den Grenzländern unserer Heimat gewandelt hat. Nicht nur die Stakenfahrt in der unberührten Natur des Flüsschens Krutynia weckt einhellige Begeisterung - hier lässt man die Seele baumeln und fühlt sich einfach unbeschwert. Ein letztes Mal tönt das Jagdhorn unseres Reiseleiters Bernd Klausing zum Ostpreussenlied - was anderswo kitschig anmuten mag ist in diesen Wäldern wohl platziert, das kleine bisschen Gänsehautgefühl gehört einfach dazu.

                                                                           

 

Herr Klaus Hagen war 1993 als maßgebliches Gründungsmitglied des Vereins der Freunde und Förderer des ehemaligen Hauptgestütsgestüts Trakehnen e.V. bereit, den 1. Vorsitz zu übernehmen, den er mit großer Hingabe und Erfolg ausgeübt hat. Ohne sein unerschütterliches Eintreten für uneigennützige Hilfe zugunsten der dort lebenden Menschen und seinen unermüdlichen Einsatz bei den baulichen Erneuerungsmaßnahmen wäre es für die zahlreichen Gäste und Freunde des Trakehner Pferdes nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen Teilen der Welt, nicht möglich gewesen, nach Kriegsende überhaupt am Ursprungsort das 275-jährige Gründungsjubiläum Trakehnens im Jahr 2007 freudig zu feiern. Anlässlich dieser 275-Jahrfeier wurde Herrn Hagen die Freiherr-von-Schrötter-Medaille verliehen, eine besondere Auszeichnung, die der Trakehner Verband zu vergeben hat.

Unbedingt lesenswert in diesem Zusammenhang ist der vollständige Bericht "Trakehnen ist wieder eine Reise wert!" von Dr. Horst Willer auf der Seite des Trakehnen Vereins unter "Presse".

 

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                                                  Ostpreussen und Trakehnen - zehn Jahre später


                                                                         

 
Zehn Jahre ist es her, als ich das erste Mal in Ostpreussen war. Die Eindrücke waren so nachhaltig, dass ich diese Reise gern noch einmal unternehmen wollte, wenn auch in etwas abgewandelter Form. Insbesondere Danzig hatte es mir angetan, das ich bisher nur aus Erzählungen von daheim kannte. Fotoalbum Danzig
Die hippologische Gegenwart jedoch sollte ebenso nicht zu kurz kommen und so bot es sich an, die Reise mit Erhard Schulte anzutreten, Trakehner Fachmann und leidenschaftlicher Freund der Geschichte Ostpreussens, seiner Menschen und Pferde, damals und heute. Es sollte sich als eine gute Entscheidung erweisen - die Beste. Erhards Erzählungen waren das Salz in der Suppe einer Reise, die tief unter die Haut geht.
Sehenswerte Fotos und herrliche Landschaften im warmen Sonnenlicht sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Fahrt nach Ostpreussen keine romantisch verklärte Rosamunde-Pilcher Reise ist. Ostpreussen heute, insbesondere der russische Teil der weiten Exklave Königsberg, ist ein Widerspruch in sich. Dramatische Gegensätze prägen das Bild, auch wenn Teile des weiten Landes heute bestellt sind. Ein durchaus positiver Umstand, den ich mit Staunen zur Kenntnis genommen habe. Marktwirtschaft und letztendlich die Erkenntnis, dass Getreide bei stetig steigender Weltbevölkerung wertvolle Devisen einbringt, haben in den letzten zehn Jahren viele Hektar des fruchtbaren Brachlandes wieder in das verwandelt, was es einmal war:
fruchtbares Acklerland. Das weiss man auch in China zu schätzen, politisch-strategischer Haupt-Importeur russischer Ernten. "Strategisches Brachland" sollte daher ein geflügeltes Wort unserer Reise werden für all die Flächen, die noch immer unbestellt ihr Dasein fristen. Inwieweit die eigene Bevölkerung von den bestellten Flächen profitiert, ist schwer nachvollziehbar. Vor den üppig mit Ost- und Westwaren gefüllten Supermärkten sieht man stets brave Russen sitzen, die die Ernte ihrer eigenen kleinen Gärten verkaufen, um so ihr Auskommen zu sichern.     
     
"EC-Karten werden heute überall akzeptiert", so stand es in unserem Reisebrief. Etwas leichtsinnig hatte ich daher nicht einmal Rubel oder Zloty getauscht. Gedanklich noch immer in den Hartwährungen der Achtziger und Neunziger Jahre unterwegs, hatte ich jedoch US-Dollarnoten dabei. Zugegeben, ein etwas schräges Accessoire für eine Reise wie diese, funktioniert hat es dennoch. Zwei Dollarnoten reichte ich dem freundlichen alten Herrn vor dem Supermarkt, der mir schon von weitem von den Augen abgelesen hatte, wie sehr mich seine Himbeeren in Versuchung führten ... Einen Halbliterbecher seiner süssen Himbeeren drängte der brave Mann mir geradezu auf, nachdem ich ihm etwas zögerlich meine verknitterten George-Washingtons in Papierform anbot. Feilschen wollte ich ganz sicher nicht mit dem braven Mann, dennoch habe ich mich im nachhinein sehr geschämt, nicht mehr gegeben und gekauft zu haben. Ganz sicher wollte ich seinen Stolz nicht verletzen, doch ein paar Dollars mehr hätten tütenweise frisches Obst und Gemüse für unsere Reisegruppe und seinerseits gute Geschäfte bedeutet. Doch dieser Gedanke kam mir erst später.

Westliche Dekadenz muss angeboren sein und erklärt, wieso das bedrückende Bild der noch immer obszön anmutenden Plattenbauten Königsbergs inmitten der prunkvollen Neubauten nach westlichen Standards mich so fasziniert. Dramatische Gegensätze, da machte auch unser Fünf-Sterne Hotel keine Ausnahme. Der Blick von der Balustrade in den innenliegenden Speisesaal sorgte für reichlich Aaahs und Ooohs, auch unter uns Wessis.

Parallel zur Ostseeküste führte unser Weg zunächst von Danzig nach Frauenburg. "Die kleine Gemeinde liegt direkt am Frischen Haff und bietet mit dem Frauenburger Dom und dem Nikolaus-Copernicus-Museum in der Domburg einen passenden Rahmen für den heutigen Reisetag. Der Besuch des Frischen Haffs mit Blick auf die Frische Nehrung soll an den Treck aus Ostpreußen über das zugefrorene Haff im Winter 1945 erinnern.", so stand es in unserem Reisebrief. Nicht darin zu lesen stand, wie greifbar Erhard uns diese Geschichte auf dem Steg am Haff im salzigen Wind der Ostsee nahebringen würde. Betroffenheit und Emotionen, wie sie uns auf dieser Reise zum steten Begleiter werden sollten.

An der russischen Grenze war "Brüderchen Vladimir" hinzugestiegen, ein wahrhaft angenehmer russischer Reisebegleiter ohne allzuviel systeminherenter Doktrin, statt dessen informativ und häufig mit putzigen Anekdoten daherkommend. Anekdotisch sollten bald die Berge von Wassermelonen werden, die es überall am Strassenrand zu kaufen gibt. Importiert werden die grünen Kugeln aus den fernen südöstlichen Gegenden des weiten Reiches und eignen sich geradezu hervorragend als Wodka-Speicher. Beim Militär war Alkohol verboten, wusste Vladimir aus eigener Erfahrung zu berichten. Nicht verboten sind jedoch Wassermelonen, die die Familie zuvor mittles feiner medizinischer Spritzen gut mit Wodka gefüllt hatte und stets als Mitbingsel zum Kasernenbesuch dabei hatte. Nachdem man die gespritzten Mitbringsel ein paar Tage liegen gelassen hatte, bescherten sie den braven Soldaten im trostlosen Kasernenalltag durchaus Partystimmung. Vladimirs Geschichten sind eine echte Bereicherung!

Tilsit, an der Grenze zu Litauen gelegen, war voller weiterer Ost-West Kontraste, und das nicht nur optisch. Die noch immer sensible Aufmerksamkeit der russischen Grenzposten nahe der sehenswert restaurierten Louisenbrücke bekam ich zu spüren, als ich ein Oldtimer-Zweirad fotografieren wollte, das vor dem Grenzübergang nach Russland wartete. Jedoch: "Fotografieren strengstens verboten!", die fuchtige Gestik und Mimik der russischen Grenzposten waren eindeutig. Doch wie das so ist, wenn man einem Kind etwas verbietet. Das Verbotene wird dadurch erst recht reizvoll. Weshalb ich meinen kleinen Ehrgeiz daransetzte, den martialisch anmutenden Grenzübergang aus kalten Kriegszeiten jetzt erst Recht ins Bild zu setzen (das Oldtimer Mobil war längst entschwunden). Unauffällig hantierte ich mit dem Sucher nahe dem Grenzzaun und staunte nicht schlecht, als plötzlich eine Grenzsoldatin wie aus dem Nichts hinter dem Zaun auftauchte, um mein Vorhaben energisch zu verhindern. Wie diese Frau mich hinter der Wellblechbaracke überhaupt hatte sehen können, ist mir ein Rätsel. Möglicherweise sind die Russen hinter Stacheldraht und wenig beeindruckendem Wellblech weit besser ausgestattet als die NSA?
   
Ein echtes Highlight war unser russisches "Friistick" mitten im grünen Memel-Land. Kartöffelchen und Gürkchen und Zwiebelchen, der ostpreussische Diminutiv hatte es mir schon vor zehn Jahren angetan, er sollte uns auch auf dieser Reise stets zum willkommen anmutenden Begleiter werden. Ebenso hatte es mir der schlichte dicke Speck angetan, der in satten weissen Scheiben in einem kleinen Eimer daherkam und bei keinem russischen Frühstück fehlen darf. Ich schwelgte in Kindheitserinnerungen, als es diese Speckschwarten noch in Omas Kühlschrank gab und der Opa stets Omas Zorn auf sich zog, weil er das "Mariellchen" wieder scheibenweise von der Schwarte gefüttert hatte ... "Da waren schon wieder die Mäuse in Omas Kühlschrank!", und Opa grinste verschmitzt.
Es war ein herrliches Picknick in der Sonne mit Blick auf die Memel und natürlich brauchte es Wodka, und reichlich davon, um der puren Kalorien Herr zu werden. Man entwickelt ein echtes Verständnis für die russische Kultur.
 
Dem Memellauf folgend ging es weiter zu den imposanten Ruinen des ehemaligen Herrensitzes Althof-Ragnit der Familie Mack und dem einstigen Privatgestüt Lenken der Familie von Sperber. Hinter dichtem Gestrüpp in hohem struppigen Gras fanden wir unvermutet die verstreuten Grabsteine der Eheleute Sperber. Folgen banausenhafter Umstände, denn diese Steine hatten in die ehrwürdige ausgeräuberte Gruft gehört. Betroffenheit und Emotionen, da waren sie wieder. Wir lauschten den Geschichten einstiger Zuchterfolge der Familie, greifbar nahegebracht in der untergehenden Sonne im weiten Land.

"Lenken war relativ klein, aber eines der renommiertesten Privatgestüte. Vor zwanzig Jahren war die Nachfrage nach stärkeren, schwereren Pferden gestiegen. Hans von Sperber, Besitzer von Lenken und ein Verwandter Anna von Zitzewitz’, züchtete weiter den klassischen, leichten Trakehner-Typus. Die Lenken-Trakehner waren berühmt für ihren Adel, ihre Eleganz und ihre leichten, mühelosen Bewegungen. Das Gut zwischen den Flüssen Memel und Szeszuppe war mit seinem hellen Sandboden und den sanft-hügeligen Weiden ideales Aufzuchtland...." Patricia Clough, In langer Reihe über das Haff

Wir querten das Flüsschen Szeszuppe und liessen die weite Landschaft auf uns wirken. Der Abend brachte uns nach Kattenau, dem ehemaligen Sitz der Familie von Lenski, und zu den nördlichen Vorwerken Trakehnens, Alt-Kattenau, Alt- und Neu-Budupönen.

"Anfang September 1990 hat sich für mich ein Wunsch erfüllt, auf den ich über 46 Jahre gewartet habe: ein Wiedersehen meiner Heimat Kattenau und Amalienau. Obwohl ich auf diesen Tag durch Berichte befreundeter Landsleute genügend vor­bereitet war, die bereits im Jahre 1989 dort einen heimlichen Besuch machen konnten, war das eigene Erleben doch mehr als erschütternd. Unsere einst so herrliche, liebevolle und abwechslungsreiche Heimat mit den schönen Dörfern und Einzelhöfen existiert nicht mehr. Das Landschaftsbild hat sich völlig verändert. Man hat dem Land buchstäblich „die Seele genommen“. Rechts und links der Straße erstrecken sich große Flächen, die im Herbst verunkrautet wie Steppen im tiefsten Rußland wirken. Man sieht nur wenige Häuser und Dorfteile, die zum größten Teil unbewohnt und verfallen sind, dazwischen Häuser russischer Herkunft, die artfremd wirken und deren Anblick unser deutsches Auge beleidigt.
Dann plötzlich mitten im Gelände die häßlichen Bauten von Viehställen eines russischen riesigen landwirtschaftlichen Großbetriebes. Diese Veränderungen machen vor allem den Landwirt, wie ich es bin, tief traurig. Riesige Flächen, die brach liegen, riesige Felder, die schlecht oder nur notdürftig bestellt sind. Ich habe den Boden und das Land richtig rufen und schreien gehört nach seinen alten, ehemaligen Bewohnern. Versöhnend für das Auge sind nur die wunderbaren Wege, Chausseen und Alleen, die mit herrlichen Eichen, Linden und Birken eingefaßt sind. Der Blick durch diese Wege in Fahrtrichtung wirkt wie der in einen natürlichen Dom. In solchen Situationen wird man stille; so auch ich. Ich habe die Hände gefaltet und meine Gedanken gen Himmel gerichtet: „Hier, großer Gott, hast Du ein Paradies versinken lassen!“ ..."

Dietrich von Lenski-Kattenau 14. 11. 1909 - 1. 10. 1999), geboren auf Gut Kattenau.
Übernahm 1937 die Bewirtschaftung des väterlichen Gutes. Im 2. Weltkrieg Kavallerie-Offizier. 1945 - 1948 russische Kriegsgefangenschaft, aus der er krank zurückkam. Dann mehr als 1 Jahr Waldarbeiter in Westfalen, wo er seine Familie wiedergefunden hatte. 1950 Übernahme der Verwaltung des Rittergutes Rothenhoff, Kreis Minden. 1953 Pachtung des ehem. Vollblutgestüts Tenever bei Bremen. Dorthin brachte er die geretteten Stuten, u. a. die Schimmelstute „Elfe“, die dann zum Ausgangspunkt einer der erfolgreichsten westdeutschen Trakehner- Zuchtlinien wurde.


Gumbinnen sollte für diese Nacht unser Ziel sein, eine Stadt im sichtbaren Wandel der Kulturen, nur der allgegenwärtige Elch erinnerte auch hier an die Assoziation zu Trakehnen.
Und dann kam Trakehnen. Meine Eindrücke von vor zehn Jahren wurden wieder wach: lesen (lohnt!)
 
Dank des guten Wetters war eine ausgiebige Begehung des Geländes zu allen mehr oder weniger erhaltenen Gebäuden und Ruinen möglich. Die weitläufigen Ländereien werden inzwischen von einem dänischen Investor bewirtschaftet, die ungenutzten Gebäude verfallen. In der Schule wurden wir erneut herzlich empfangen und besuchten das kleine Museum. Ich nutzte die Gelegenheit und bat Vladimir, die freundliche Direktorin nach Anya zu fragen, die uns damals an selber Stelle mit ihrem glockenreinen Gesang so verzaubert hatte. Die Direktorin war entzückt, als ich ihr die Fotos (oben) von unserem damaligen Besuch zeigte und versicherte, wie sehr Anya mich damals beeindruckt hatte. Die talentierte Sängerin sei mittlerweile selber Lehrerin an einer Schule nicht weit von Trakehnen und es gehe ihr gut. Ein bisschen traurig stimmte mich diese Antwort dennoch, ein solches Stimmtalent hätte unter anderen Umständen vermutlich andere Perspektiven gehabt.
Dennoch hat die Schule von Jasnaja Poljana sich ganz offensichtlich sehr etabliert, der vorherrschende Eindruck erheblicher Armseeligkeit von vor zehn Jahren ist einem lebendigem und lebensfrohen Treiben gewichen. Dank der unendlichen Bemühungen und grosszügigen Unterstützung des Trakehnen Vereins erwartet das vorbildlich gedeckte Dach des Landstallmeisterhauses ("Wir sind sehr stolz auf dieses schöne Dach, so ein Biberschwanzdach gibt es in Russland gar nicht!") nun endlich seinen Turm, die goldene Turmspitze mit dem springenden Ross hat der Verein auf einer seiner letzten Reisen bereits dem kleinen Museum übergeben. Und auch die legendäre Statue des Tempelhüter hat ihren angemessenen Platz vor dem Landstallmeisterhaus wiedergefunden. Wenn es sich hierbei auch nicht um das Original handelt, so ist es doch nicht weniger fotogen und erinnert eindrucksvoll an den alten Glanz vergangener Zeiten.

Der Abschied aus Trakehnen ist diesmal von weniger Schwermut getragen als damals. Strahlender Sonennschein mag das Seine dazu getan haben, es mag aber auch an der freundlichen Bewirtung zum geselligen Mittagessen in der Nachbarschaft gelegen haben, und selbst der Besuch in dem kleinen Supermarkt, der in seiner touristisch anmutenden Aufmachung so gar nicht hierher passen will, hilft der Moderne und Gegenwart mental auf die Sprünge. Auch hier zahlt man mit EC-Karte und ja, auch hier gibt es Bananen und reichlich Lebensmittel und natürlich Wodka. Überaus putzig gestaltet sich der Abschied von unserem kleinen vierbeinigen Freund aus der Gastwirtschaft, der uns bis zum Bus folgt und hin- und hergerissen scheint, ob er nun einsteigen soll oder nicht. Er entscheidet sich für die Heimat und wir winken ihm fröhlich hinterher.

Wir verlassen Trakehen durch die Rominter Heide, vorbei an dem einstigen barocken Tor des Gutes Reisch-Perkallen, das die letzten Überreste einer weiteren geschichtsträchtigen Trakehner Zuchtstätte markiert. Erhard wird nicht müde zu erzählen und wir hören gebannt zu.

... Ende September 1944 mehrten sich die Nachrichten vom Heranrücken der Roten Armee. Kurzerhand bat ich den leitenden Stabsarzt, mich zur ambulanten Behandlung in meine ostpreußische Heimat zu entlassen. Am 18. Oktober 1944 bestieg ich den Zug in Richtung Berlin und traf am Vormittag des nächsten Tages auf Umwegen in Gumbinnen ein. Eine Weiterfahrt nach Eydtkau war wegen der Frontnähe nicht möglich. Der Buchhändler in der Königstraße fegte gerade die Glassplitter des nächtlichen russischen Bombenangriffs zusammen und machte einen pessimistischen Eindruck. Ich humpelte die alte Reichsstraße 132 in Richtung Goldap sieben Kilometer weit bis Husarenberg. Als ich die Haustür unseres Gutshauses öffnete, erblickte ich meine Eltern an der Treppe, und sie waren überhaupt nicht erstaunt, daß ich plötzlich vor ihnen stand. Als wenn sie es geahnt hätten, schwenkte mein Vater das gefüllte Sektglas und sagte: "Mein Sohn, gut, daß du kommst, denn es wird der letzte Schluck in Perkallen sein. In wenigen Stunden sind die Russen da!" ....

In den späten Abendstunden kamen wir in Nemmersdorf an, wo sich unsere Leute schon ganz ermüdet vor der Angerapp-Brücke in einer Scheune zur Ruhe legen wollten. Da schoß es mir durch den Kopf: Niemals mit dem Fluß im Rücken übernachten – so hieß der Leitsatz unseres Taktiklehrers. Es war sehr schwer, alle wieder zur Weiterfahrt anzutreiben. Freudige Gesichter sah ich natürlich nicht, erntete dann später aber großen Dank. Denn das sollte unsere Rettung sein. So entgingen wir dem berüchtigten Massaker von Nemmersdorf, von dem wir später erfahren sollten. Mein Vater hatte nämlich den Durchbruch der sowjetischen Panzer bei Großwaltersdorf beobachtet und suchte nun den Treck. In den frühen Morgenstunden des 21. Oktober erkannte er in dichtem Nebel das Wiehern unserer Stute Tilly und fand uns in einer Scheune einige Kilometer weiter. ...
Joachim Reisch, Junge Freiheit Verlag


Auf dem Weg nach Masuren lauschen wir geradezu andächtig der Erzählung Marion von Doehnhoffs, die eindrucksvolle Hörspielfassung ihrer Briefe an den Bruder passt einfach so sehr hierher.
So einfach. So schön. So folgenschwer.   

Am Grenzübergang bei Goldap verabschieden wir uns von Vladimir und einmal mehr geht der Eintritt nach Polen mit grosser Erleichterung einher. Der Westen hat uns wieder, unverkennbar.   
Ich erkenne die wunderschöne pompöse Ritterburg Ryn, unsere Unterkunft von vor zehn Jahren, und stelle fest, dass es inzwischen gleich drei dieser gewaltigen mondänen Hotelkomplexe in Masuren gibt. Alle drei in gleicher Hand, alle drei in der selben Manier aus Burgruinen wieder auferstanden und mit viel Liebe zum historischen Detail und zweifelsohne noch mehr Kapital wieder aufgebaut. Eine davon soll unsere heutige Herberge werden, St. Bruno - ich bin begeistert!      

Masuren. Mit dem Boot geht es über den Löwentiensee zu Schloss Steinort, geschichtsträchtiger Stammsitz der Grafen Lehndorff. Bewegende Geschichte, zum Greifen nah.

Steinort, das Schloss der Lehndorffs, stand nur 14 Kilometer entfernt vom "Führerhauptquartier" Wolfschanze - hier wurde das Attentat auf den Diktator am 20. Juli 1944 verübt. Wegen der Nähe zur Wolfschanze hatte sich der NS-Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop im Schloss Steinort einquartiert, er spielte gern mit den Töchtern des Hauses und ließ sich mit ihnen fotografieren.
Während Ribbentrop in dem einen Flügel lebte, überlegten Lehndorff und seine Vertrauten in anderen Ecken des Schlosses, wie das NS-Regime zu stürzen sei. Nachdem am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler misslungen war, fuhren am Tag darauf Wagen der SS die Auffahrt hinauf. Graf Lehndorff, 35 Jahre alt, wusste, dass er festgenommen werden sollte.
In der Haft wurde er schwer misshandelt und in Berlin-Plötzensee erhängt.
Zurück blieb Ehefrau Gottliebe mit drei Töchtern und hochschwanger mit einem vierten Kind. Schloss Steinort wurde beschlagnahmt. Gottliebe Lehndorff kam ins Gefängnis, entband, wurde entlassen und später, blutend und schwach, mit dem neugeborenen Kind im Arm, in ein Arbeitslager gebracht. Ihre drei älteren Töchter wurden in ein NS-Kinderheim in Bad Sachsa gesteckt, zusammen mit anderen Kindern von Eltern aus dem Widerstand. Sie bekamen neue Namen.
Der Spiegel 2011

Auf Betreiben von Lehndorff-Steinorts Cousine Marion Gräfin Dönhoff (deren Großmutter und Schwägerin aus der Familie von Lehndorff stammten) gelangten die Kinder nach dem Krieg wieder in die Obhut ihrer Familie.

Die Eltern Lehndorff waren begeisterte Trakehnerzüchter. Seine Schwester Karin und Marion Dönhoff "eroberten sich auf dem Pferderücken nicht nur Respekt, sondern auch manche Freiheiten, die die Generation ihrer Mütter noch nicht gehabt hatte". Bald wurde die Clique auseinandergerissen, weil die Kinder in Internate mussten.
Der betont protestantisch ausgerichteten Klosterschule Roßleben in Thüringen gelang es, den "Zögling Lehndorff" zu bändigen. Auf der Suche nach Schulzeit-Spuren fand sich die Beurteilung des Klassenlehrers, der den Adligen 1929 als "unreif, tolpatschig, poltrig, naiv" beschrieb. Von 1932 bis 1934 lebte Lehndorff in Frankfurt am Main, wo er "offensichtlich" juristische und betriebswirtschaftliche Vorlesungen besuchte. Danach leistete er "vermutlich" Wehrdienst ab. Als Anfang 1936 sein Onkel Carol starb, musste er den heruntergekommenen Großbetrieb wieder voranbringen. Steinort "war nicht nur eins der schönsten, sondern auch eines der größten Güter in Ostpreußen. Es umfasste fast 5500 ha, die Wasserflächen nicht einberechnet." Während der Olympischen Spiele lernte der junge Schlossherr in Berlin die 1913 geborene Gottliebe Gräfin von Kalnein näher kennen; Anfang 1937 fand die Hochzeit statt.
Frankfurter Allgemeine 2010

Ein frohgemutes Highlight war der Besuch von Quittainen in der Abenddämmerung. Erst kürzlich fand das Anwesen neue Besitzer mit grosser Affinität zu Trakehnen, "Hipp-Babynahrung!", wie der freundliche polnische Gartenarbeiter auch deutschverständlich zu berichten wusste. Seither erfreut es sich konstruktiver Renovierungsarbeiten, die vermuten lassen, das Anwesen bald wieder als sehenswertes Schmuckstück von Flair und Geschichte auf sich wirken lassen zu können. Immerhin konnten wir schon jetzt die Nasen an die Aussenfenster des rosa Schlosses drücken und erkannten die beeindruckenden Stuckarbeiten und den grossen weissen Kachelofen in seiner ganzen Pracht. Sehenswert wirkt Quittainen auch durch die vollständig erhaltene Infrastruktur des alten ostpreussischen Gutsbetriebes rund um den grossen Teich. Ein kleines Trakehnen für sich, und man erhält eine gute Vorstellung davon, wie der Alttag sich hier einst zutrug.    

Nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs sollte Marion Dönhoff nach Denunziation durch ihren Onkel auf Schloss Quittainen, Bogislav Graf Dönhoff (1881–1962), Nationalsozialist und Freund des Gauleiters Erich Koch, verhaftet werden. Der Verwandte war seit längerer Zeit mit der Familie verfeindet und hatte Prozesse bis zum Reichsgericht geführt, die er durch alle Instanzen verloren hatte. Die Gräfin wurde von der Gestapo verhört, konnte sich jedoch einer Festnahme entziehen, da ihr Name auf keiner Fahndungsliste stand. ...

Von 1939 bis zum Januar 1945 verwaltete Dönhoff das ostpreußische Familiengut Quittainen in der Nähe von Preußisch Holland. Sie wohnte nicht im Schloss Quittainen, sondern im nahe gelegenen Rentamt, da ein entfernt verwandter Onkel das Schloss bewohnte. Sie vertrat ihren Bruder Dietrich, den Verwalter Schloss Friedrichsteins, während seines Kriegsdiensts. Er wurde im März 1943 unabkömmlich gestellt und übernahm erneut die Verwaltung. Wikipedia


Auf der Fahrt aus Masuren hinaus Richtung Ermland besuchen wir Schloss Dönhofstädt, eines der vier Königsschlösser Ostpreußens und ehemaliger Sitz der Grafen zu Stolberg-Wernigerode. Auch hier wird fleissig renoviert und einmal mehr zeigt sich der Wert von Banknoten gegenüber Münzgeld, ganz wie in Königsberg.
Erhard unterhält ein unergründliches Netzwerk wertvoller Kontakte, die uns bei Ankunft Tür und Tore zu Schauplätzen öffnen, welche uns sonst ganz sicher verschlossen blieben. Ein unschätzbarer Mehrwert einer Reise, die sich ansonsten auf oberflächliche Eindrücke von aussen beschränken müsste. Gern hinterliess man ein paar Taler als Dank für die freundlichen Helfer. Als wir von Dönhofstädt wieder abfahren wollten - ich stand als Letzte vor dem Bus - raschelte es plötztlich absonderlich hinter mir. Aufgeregt kam das Mütterchen auf mich zugelaufen und bat mich auf polnisch um - ja was? Dabei schüttelte sie heftig ihren Becher mit Münzen, die Geste war eindeutig. "Mütterchen, du möchtest deine Taler natürlich in Euro-Banknoten getauscht haben, das sollst du gerne haben!", sprach der Erhard. Ein sehr zufriedenes Mütterchen verabschiedete sich daraufhin von uns und ich bin sicher, sie wird auch beim nächsten Besuch wieder hilfreich mit dem grossen Schlüsselbund bereitstehen.       

Zu den hippologischen Highlights der Reise zählen die Besuche in Gallingen und Milakowo.
Gallingen ist der ehemalige Landsitz der Grafen Eulenburg und ist in altem Glanz
wieder entstanden. Heute beherbergt es ein Gestüt, einen Turnierstall und ein Hotel. Insbesondere Springpferdezüchter kommen hier auf ihre Kosten. Der in der deutschen und internationalen Springpferdezucht versierte Gestütsleiter präsentierte uns seine besten Zuchtsten und deren Nachzucht vertrauter Abstammungen:
Cascadello, Karajan, Cornet. Allesamt hoch prämiert und auch aus deutscher Sicht echte Leckerbissen darunter. Ich war begeistert! Abgesehen von der versierten Pferdezucht und sportlichen Ausbildung, die hier betrieben wird, beeindruckt der grosse Betrieb durch seine funktionale Ausstattung. Hier wurde nicht nur liebevoll renoviert, die weitläufige Anlage wurde mit Sinn und Verstand für Ross und Reiter hergerichtet.
Das dazugehörige Schloss ist sicherlich nicht weniger einladend, wenn ich jedoch wählen müsste käme ich lieber auf dem herrlichen Gutshof unter.     

Mein ganz persönliches Highligth war jedoch der Besuch bei Marek Przeczewski in Milakowo, Zuchtstätte des Kros (Jens Hoffrogge). Von hier kamen auch Avatar und Adorator nach Deutschland und aufgrund meiner Affinität zu dem sympathischen Schimmel Adorator hatte ich mich in der Vergangenheit bereits ausgiebig mit eben dieser alten polnischen Genetik beschäftigt. Gezielte Inzucht auf Ajbek und Poprat prägt die Zucht, die Mutterlinie des Kros gehört zum Tafelsilber. Echtes Tafelsilber war es dann auch, das Marek uns hier präsentierte - in jeder Hinsicht. Sechs Absetzer und Jährlinge aus eigener Zucht, von denen es mir eine Halbschwester zu Kros von dem gestütseigenen Blüter Diverse besonders angetan hatte. Aus gutem Grund steht diese Stute nicht zum Verkauf. Grösste Begehrlichkeit weckte auch das beeindruckende Schimmelduo, eine weitere Tochter des Diverse aus einer ausgeprochen charmanten und kompletten Mutter von Ajbek. 
Das wüchsige Stutfohlen wechselte zu unser aller Freude noch an diesem Tag in den Besitz einer unserer Mitreisenden, die sich das Pferdchen zum Geburtstagsgeschenk machte. Was für eine schöne Geschichte!
Der Deckhengst Diverse ist ein siebenjähriger hoch im Blut stehender Pole von San Luis xx aus einer Mutter von Ajbek, ebenso mehrfach ingezogen auf Poprad. Der Hengst selber lässt als trocken linierter Veredler keine Wünsche offen, offensichtlich vererbt er sich auch genau so. Das halbe Dutzend Nachzucht, das wir zu sehen kamen, schien aus einem Guss. Der ausgesprochen informativen und interessanten Präsentation der Pferde folgte dann das "Tafelsilber" in der guten Stube. Es war ein wahrer Festschmaus und eine Demonstration von herzlicher Gastfreundschaft, wie man sie selten erlebt. Vor allem dann nicht, wenn man mit nahezu 50 Personen in einem grossen Reisebus anreist.Wir waren allesamt absolut begeistert und wenn mein ganz perönliches Interesse an der blutgepägten polnischen Trakehnerzucht auch vorher schon geweckt war, dies hier war feinster Anschauungsunterricht aus erster Hand und ich hätte es nicht missen mögen.   

Eindrucksvoller Abschluss der Reise sollte Schlobitten werden. Die Geschichte des Fürsten Dohna-Schlobitten und dem dem einstigen „Versailles von Preußen“ war mir wohl bekannt. Und doch ist es etwas ganz anderes, wenn man mitten drin steht - einmal mehr gebührt der Dank für das offene Tor einem freundlichen Helferlein - und darüberhinaus auch eines der naheliegenden Vorwerke in seinem beeindruckenden ursprünglichen Umfang zu sehen bekommt.  
 
Als sich die Rote Armee im Winter 1944/45 durchs frostige Ostpreußen vorkämpfte, waren den Soldaten die Schlösser der „preußischen Junker“ ein besonderer Dorn im Auge. Stalin vermutete deren Eigentümer als die eigentlichen Anstifter von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Und jetzt hieß es Rache an den Familiensitzen der verhassten „Monokelträger“ zu nehmen. Bei Schloss Schlobitten in Masuren machten die Rotarmisten keine Ausnahme. Der Familiensitz der von Dohna-Schlobitten, eines der schönsten Barockschlösser des Landes, wurde im Januar 1945 angezündet. Er brannte drei Tage lang bis auf die Außenmauern nieder.

In der grossen Scheune des benachbarten Vorwerks hat Alexander Fürst Dohna einst die Fuhrwerke für den Treck herrichten lassen, verborgen hinter Bergen von Heu und Stroh, denn die Flucht war im Winter 44/45 noch immer verboten. Von der Scheune sind nur noch Gemäuerrste zu sehen, man ahnt ihre Grösse.
Es sollte der grösste
geschlossene Flüchtlingstreck werden, der es über 1500 Kilometer aus der ostpreußischen Heimat nach Westen in Sicherheit schaffte. Am 20. März 1945 erreichten mehrere hundert Menschen erschöpft aber zuversichtlich ihr Ziel auf dem Gut der Familie von Behr in der Grafschaft Hoya, wo sich der Treck auflöste. Neben den vielen Menschen wurden auch 31 Trakehner-Mutterstuten in dem Treck gerettet.

"... Dort kam es in der ersten Februarwoche 1945 zu einer schicksalshaften Begegnung. Johanna Sasse, mit Mann, Mutter, Schwestern, einer sehr alten Tante und dem gesamten Treck, war auf dem verlassenen Gut eines Herrn von Bülow in Pommern untergekommen. Nachts schlief die Familie auf zusammengeschobenen Sesseln, die Kinder auf einem am Boden ausgebreiteten Pelz. Johanna lag noch wach, als sich die Tür öffnete, eine große, magere Gestalt hereinschaute und fragte, ob es noch Platz gäbe. Der Fremde war Alexander zu Dohna- Schlobitten, der seinen großen Treck nach Westen führte und sich verirrt hatte, als er den nächsten Abschnitt der Reise auskundschaften wollte. Zwei Tage später fand Dohna seinen eigenen Treck wieder, und die beiden Trecks vereinigten sich, eine endlose Reihe von Wagen, Menschen und Pferden.“ Patricia Clough, In langer Reihe über das Haff

Den letzten Abend verbrachten wir gemeinsam in Danzig, dem Ausgangspunkt unserer Fahrt.
Zeit, ein wenig Luft zu holen und Vergangenes Revue passieren zu lassen.
Danke, Erhard, deine Erzählungen und Leidenschaft waren das Salz in der Suppe dieser Reise!



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Stadt der Gegensätze: Königsberg





Blick vom Dom in Frauenburg, im Hintergrund das Frische Haff und die Nehrung



Louisenbrücke Littauen, Grenzübergang nach Tilsit





Russisches Picknick an der Memel, natürliche Landesgrenze. Links Littauen, rechts Russland.



Althof-Ragnit, oben das Gutshaus, unten die Schmiede





Kattenau









Das barocke Tor ist alles, was von Reisch Perkallen übrigblieb. Unten: St.Bruno, Masuren





Überfahrt nach Steinort auf dem Löwentinsee



Quittainen
mit Blick auf das Dörfchen






Gruft in Dönhofstädt



Gallingen (oben) Milakowo (unten)





Schlobitten und Vorwerk Schlobitten